Man sollte meinen, dass diejenigen, die von der Volkheit ausgehen, den Geist des Volkes anbeten, ihn geradezu mystifizieren und ihm in der Theorie eine höchste Wertung zu Teil werden lassen, auch das Volk im gewöhnlichen Leben unendlich hochschätzen, es achten und verehren und ihm alle Rechte gern zugestehen müssten, vor allem das Selbstbestimmungsrecht, das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, durch das es seinem Willen in politischen, wirtschaftlichen und anderen Fragen Ausdruck geben kann.
Aber nichts von alledem. Wenn man die völkischen Redner hört und die völkischen Geisteserzeugnisse liest, kann man sein blaues Wunder erleben. Das Volk, das für sie das Höchste sein sollte, ist in ihren Augen etwas sehr Unvollkommenes. So wird z.B. das deutsche Volk seitens der Völkischen der schwersten Verbrechen bezichtigt (Dolchstoß von hinten), oder es werden ihm allerhand Fehler zugeschrieben: Liebedienerei vor dem Auslande, Würdelosigkeit, undeutsches Benehmen und was dergleichen Verallgemeinerungen mehr sind. So wird z.B. in dem größten völkischen Geschichtsbuch das deutsche Volk als „politisch instinktlos“ gebrandmarkt. Diese Schmähungen finden wir in Einharts „Deutscher Geschichte“ am schärfsten an der Stelle ausgesprochen, wo von dem Präsidenten Wilson die Rede ist. Dort heißt es […]: „Von allen Beweisen, die das deutsche Volk seit Bismarcks Entlassung in Bezug auf seine Instinktlosigkeit gegeben hatte, ist dies der allerbeschämendste, dass Menschen, die auf politisches Urteil Anspruch haben, dem widerwärtigsten und verlogendsten Feinde ins Garn gingen, dass sie als politischen Idealismus ansehen, was platteste Gemeinplätze waren, dass sie die gotteslästerliche Salbung dieses Herz- und Gemütlosen für Menschenliebe und den Ausfluss neuester Staatsweisheit annahmen.“
Ein anderer Völkischer vergleicht das deutsche Volk mit Einfaltspinseln, deren politischer Instinkt noch unter dem der Hammeldiebe des Balkans liege. „In Wahrheit“, sagt Theodor Fritsch im „Hammer“ (Nr. 602 vom 15. Juli 1927), „sind die Deutschen von heute in ihrer großen Mehrheit ein Volk von politischen Einfaltspinseln, die sich von jedem Hansnarren an der Nase herumführen lassen … Jeder Hammeldieb in dem sonst so rückständigen Balkan besitzt mehr politischen Instinkt als viele deutsche Unternehmer, Gelehrte und Abgeordnete.“
Müller-Lyer hat in seinen Grundlinien einer Volksphilosophie über den „Sinn des Lebens“ (1919) als die Aufgabe des Menschengeschlechts „die Förderung alles dessen, was Mensch heißt“, bezeichnet. Dazu bemerkt der völkische Schriftsteller Rudolf Viergutz in „Deutschlands Erneuerung“ […]: „Das ist der Gipfel der Sklavenphilosophie, das A und O der Demokratie. Jener Satz ist die grade Umkehrung des völkischen Gedankens. Dass die Züchtung einer führenden Schicht, eine höheren Typus Mensch der Menschheit Aufgabe sein könnte, kommt jenen gar nicht in den Sinn. Die Frucht der Edelzucht, der geborene Herr, der Adel, hat eine andere Moral als der zum Dienen Geborene, was für den einen Pflicht, ist für den anderen Verbrechen […]. Es kommt immer darauf an, wer die Kultur schafft. Edle Rassen wirken sie kraft ihres Herrscherwillens, Kötern ohne Anleitung wird sie zum Fluch … Er [der Köter] nennt seinen Aberglauben Wissenschaft und seine Roheit Gesinnung.“ […] Dann spricht er weiter von dem Kötergeist der Demokratie. „Es riecht immer wie Schwefelwasserstoff, wenn Demokraten von ‚Rasse‘ sprechen.“ Dass der „Kannibale der germanischen Urzeit“ Menschen gefressen habe, nennt er „Köterlogik“. Das Volk zum Köter zu degradieren, ist immerhin eine Leistung, die solchen völkischen Schriftstellern vorbehalten blieb und die sich nur aus ihrer Engstirnigkeit, um nicht zu sagen Dummheit erklären lässt.
Wir wollen als weiteren Beleg für diese Denkweise den völkischen Führer Hitler anführen. In einer seiner Reden heißt es: „Wir wissen, dass das deutsche Volk heute noch zu einem Drittel aus Helden, zu einem aus Feiglingen und zum dritten aus Verrätern besteht.“ […]
Arthur Trebitsch, der ein Buch über „Arische Wirtschaftsordnung“ geschrieben hat, in welcher er den arischen und jüdischen Geist in einer Antithese gegenüberstellt, bezeichnet das deutsche Volk in demselben als dumm und einfältig, als ein Volk ohne Seelenkenntnis und psychologischen Scharfblick. „Das deutsche Volk“, sagt er, „ist bisher das einzige unter den Völkern, das aus seinen Fehlern und Niederlagen nichts gelernt hat … Einfalt ist vielleicht die beste und durchdringendste Beschreibung dieser deutschen Uranlage …Die trostlose Definition, zu der wir auf Grundlage jahrelanger politischer Erlebnisse für des Deutschen Wesen gelangt sind, lautet: Der Deutsche ist ein Mensch, der nie weiß, mit wem er spricht.“ […]
Die Auffassung, dass der Deutsche einfältig sei, kommt auch in der in alldeutsch-völkischen Kreisen häufig gebrauchten Redensart vom deutschen Michel zum Ausdruck. Claß schreibt in seiner „Deutschen Geschichte“ […]: „Wenn die Mehrheit der Deutschen nicht politisch unzurechnungsfähig gewesen wäre, hätte die Umwälzung vom 9. November bereits zwei Tage später ihr Ende gefunden.“ Am Zusammenbruch misst er dem deutschen Volk die Hauptschuld bei. „Das ist das Ende des Bismarck-Reiches, herbeigeführt durch die Schuld eines ganzen Volkes, das sich durch volksfremde und volksvergessene Falschmünzer der öffentlichen Meinung seinem eignen Wesen hat entfremden lassen.“ […]
Einen sehr interessanten Fehler des deutschen Volkes hat auch der Graf E. zu Reventlow, dieser „beste politische Kopf der Deutschen“ (Bartels) entdeckt, nämlich den „eines ungewöhnlich tiefen Verständnisses für die Erzeugnisse fremden Geistes“. In seiner Schrift „Die völkische Eigenart und der Internationalismus“ (Leipzig 1910 […]) schreibt er wörtlich: „Der Deutsche bringt es sogar fertig, was, glaube ich, sonst das Unzugänglichste ist, fremden Humor und fremden Witz zu verstehen und als solchen zu empfinden. Ich spreche nicht nur von den uns verwandten Engländern, sondern auch von den romanischen Völkern, auch von dem griechischen Humor und Witz.“ Ich bitte den Leser, diesen Ausspruch durchaus nicht als Witz aufzufassen.
Als 1919 im Haag auf der Internationalen Konferenz des „Weltbundes für die Freundschaftsarbeit der evangelischen Kirchen“ die fünf deutschen Delegierten die richtige Erklärung abgaben, sie sähen in der Verletzung der belgischen Neutralität im Jahre 1914 ein moralisches Unrecht,da schnaubte der Völkische Ernst Hunkel in seiner Zeitschrift „Neues Leben“ (1919) vor Wut: „Wäre noch irgend ein anderes Volk der Erde einer so erbärmlichen Handlung fähig?“ Das Eingeständnis einer Schuld, wenn Deutsche sie begehen, ist also für diesen Mann – und das gilt für alle völkisch Denkenden – eine erbärmliche Handlung!
Das sind nur ein paar willkürlich herausgegriffene Äußerungen. Die ganze völkische Literatur ist erfüllt von Beschimpfungen des deutschen Volkes. Wenn sich jemand einmal die Mühe machen wollte, die Reden und Druckerzeugnisse der Völkischen daraufhin zu kontrollieren, was sie alles an herabsetzenden und törichten Behauptungen über das deutsche Volk fertig bringen, dann kann einem als Deutscher wirklich schlecht werden.
Die größte Schmähung, die die Völkischen dem deutschen Volk antun, besteht aber darin, dass sie dem Deutschtum zutrauen, dass es sich von dem noch nicht einmal ein Prozent betragenden Judentum habe unterkriegen lassen, dass das deutsche Volk von Juden beherrscht werde.Was für Jammerlappen müssten diese Deutschen sein, wenn das wahr wäre! Welches testimonium paupertatis [im übertragenen Sinne „Armutszeugnis“ – d. Red.] stellen die Völkischen dem deutschen Volke damit aus!
Auch die ganze Politik der Völkischen lässt von einer Wertschätzung des Volkes nichts verspüren. Weit entfernt davon, es seine Geschicke selbst bestimmen zu lassen, treten diese Freunde des Volkes vielmehr für Bevormundung und Beherrschung auf allen Gebieten ein und bekämpfen die Demokratie, die von der Volkssouveränität ausgeht. Um nur ein Beispiel anzuführen, so hat der völkische Professor von Below ein Buch über das parlamentarische Wahlrecht geschrieben, das das allgemeine gleiche und direkte Wahlrecht verwirft. Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ bezeichnet er in seiner Schrift „Das gute Recht der Vaterlandspartei“ als eine unsinnige Forderung. Er ruft zum schärfsten Kampf „gegen diese läppische Formel“ auf und behauptet: „Jeder, der einigermaßen historisch und politisch gebildet ist, muss doch aber anerkennen, dass diese Forderung eine einfache Narrheit ist.“ Davon also, dass die Völkischen das Volk zum eigenen Herrn über seine Geschicke machen wollen, kann keine Rede sein. In ihrer ganzen politischen Haltung zeigen sie sich nicht als Freunde, sondern als Feinde des Volkes, denn für diese sozialen Reaktionäre ist das Volk nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck.
Oskar Stillichs Text findet sich unter der Nummer 38 in seinem Band „Begriff und Wesen des Völkischen“, der als erstes Heft seines „Deutschvölkischen Katechismus“ (1929-1932) erschienen ist. Mit Antworten auf insgesamt 84 Fragen zieht Stillich der völkischen Propaganda als einer der Urquellen nationalsozialistischer Ideologie den Schleier vom Gesicht und zeigt auf, was wirklich hinter deren Phrasen steckt: Fremdenhass, Antisemitismus, Deutschtümelei, primitivstes Elitegehabe und Kriegstreiberei. Seine „Antworten“ lesen sich angesichts derzeitiger Umfragewerte der Rechtsextremen auf erschreckende Weise tagesaktuell. Heutigen Faschisten das Wort „Faschist“ ins Gesicht zu schleudern, ringt diesen aber allenfalls ein müdes Lächeln ab. Im günstigsten Falle erntet man noch eine Belehrung über „historisch falsch“ gebrauchte Begrifflichkeiten. Aber auf eine Demaskierung ihrer wahren Absichten reagieren die Herrschaften tückisch. Wer einen Sumpf bezwingen will, muss ihn trocken legen. Verbale Kraftmeierei hilft überhaupt nicht. Oskar Stillichs Arbeiten können eine wichtige Hilfe dabei sein. Die Nähe zu den Schriften Victor Klemperers ist kein Zufall. Oskar Stillich, 1872 geboren, starb 1945. Er verhungerte … Die, gegen die er anschrieb, und deren geistige Erben ließen nach 1945 nichts unversucht, um ihn und seine Mitstreiter dem Vergessen zu überantworten. Wir danken dem Bremer Donat Verlag für die Nachnutzungsgenehmigung.
Oskar Stillich: Begriff und Wesen des Völkischen. Herausgegeben und mit einer Einleitung von Helmut Donat, Donat Verlag, Bremen 2023, 176 Seiten, 16,80 Euro.
Oskar Stillich: Militarisierung des Volkes, Kritik der Reden Hitlers und andere Studien zum Nationalsozialismus. Herausgegeben und mit einem Beitrag von Helmut Donat, Donat Verlag, Bremen 2023, 400 Seiten, 24,80 Euro.
Schlagwörter: Demokratie, Deutsches Volk, Dolchstoß, Donat Verlag, Hitler, Oskar Stillich, völkische Literatur