26. Jahrgang | Nummer 17 | 14. August 2023

Über Walter Ulbricht. Im Gespräch mit – Ilko-Sascha Kowalczuk

von Anja Reich 

Er war der Einzige,

der den Sowjets widersprochen hat.

Sogar Stalin.

 

Ilko-Sascha Kowalczuk

 

Ilko-Sascha Kowalczuk hat das Leben von Walter Ulbricht tiefenerforscht. Dabei stellt der Historiker fest: Das öffentliche Bild des Politikers prägen persistente Klischees und Fehlurteile.

Er ist der Mann, der die Berliner Mauer gebaut hat, ein sächselnder Diktator mit Spitzbart und Fistelstimme, eine Hassfigur der deutschen Geschichte. Walter Ulbricht sei ihm immer fremd gewesen, sagt der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Bis er in die Archive stieg und in den Dokumenten einen anderen Ulbricht kennenlernte: hochintelligentes Arbeiterkind, Kommunist und NS-Verfolgter, Exilant in Paris, Prag und Moskau. Ein Mann, der 17 verschiedene Tarnnamen besaß, sich den berühmten Ulbricht-Bart wachsen ließ, um von den Nationalsozialisten nicht erkannt zu werden, und der sein Leben aufs Spiel setzte, um seine Geliebte Lotte in Moskau vor der Verbannung nach Sibirien zu schützen.

In zwei Bänden, jeder tausend Seiten dick, erzählt Kowalczuk nun dieses widersprüchliche Leben des wichtigsten DDR-Politikers. Vier Jahre lang hat der Historiker an dem Mammutwerk geschrieben, 60 Archive in zwölf Ländern besucht und über 4000 Literaturtitel verarbeitet. Zuweilen, schreibt er in der Einleitung, habe er sich selbst am Schreibtisch zurufen müssen: „Ey, das ist Ulbricht, bleib cool, der darf dir nicht sympathisch sein, du darfst dich mit ihm nicht gemein machen!“

Zum Interview treffen wir den Historiker in seiner Wohnung in Prenzlauer Berg, in der er seit Anfang der 90er wohnt. Die Bücherregale reichen bis unter die Decke, an den Türen hängen alte Konzertkarten, ausländische Geldscheine und Union-Fan-Artikel. Am Schreibtisch ist zwischen einem Holzesel, einem Basketball, einem Taschenmesser und anderem Krimskrams gerade noch Platz für Tastatur und Bildschirm. Er könne nichts wegwerfen, sagt Kowalczuk. Das gilt auch für den Zettel, den er 1988, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer, geschenkt bekam. „Fort mit Ulbricht und Konsorten“, steht darauf.

*

Herr Kowalczuk, Walter Ulbricht ist als DDR-Gründer, Kalter Krieger und Mauerbauer bekannt. Sie erzählen nun auf tausend Seiten von seinem Leben vor 1945. Warum?

Die Ulbricht-Biografien, die es gibt, ältere Arbeiten, beschäftigen sich alle mit Ulbricht vorzugsweise nach 1945, und die Autoren haben voneinander abgeschrieben. Dadurch multiplizieren sich Fehler und Klischees, die ich in meinem Buch immer wieder beschreibe. Wahrscheinlich werde ich mir damit nicht viele Freunde machen. Denn es gibt kaum eine so ausgeprägte Hassfigur wie Ulbricht.

 

Hatten Sie wirklich Angst, er könnte Ihnen sympathisch werden?

Mir war klar, er war schon 52, als er 1945 aus dem Moskauer Exil nach Berlin zurückkam, da war schon einiges in seinem Leben passiert, und natürlich kommt niemand als Mauerbauer auf die Welt. Das war eine methodische Herausforderung für mich: Wie schaffe ich es, damit der Typ nicht zu nett wird? Wie halte ich ihn auf Distanz? Es war tatsächlich so, dass ich manchmal, wenn ich etwas las, was mir unfair erschien oder nicht stimmig, etwas sauer wurde.

 

Wer hat dieses Bild von ihm gezeichnet?

Renegaten, Kommunisten, die abgeschworen haben, in den Westen gegangen sind, haben aus ihm eine Witzfigur gemacht, um sich über ihn zu erheben und zu behaupten: Jetzt stehe ich im richtigen Lager. Kennt man ja auch von Leuten, die treue DDR-Bürger waren und im Rückblick ganz anders reden. Und niemand hinterfragt das. Bei Ulbricht muss man nur seinen Namen nennen und schon folgen Witze über seinen Körper, seine Stimme. Vor 1945 wurde er ganz anders dargestellt.

 

Wie denn?

Er war ein Mann aus der Arbeiterschicht, hochintelligent, hochgebildet, jemand, der sich mit einer unfassbaren Energie hochgearbeitet hat wie August Bebel oder Wilhelm Pieck. Ich habe Ulbricht-Aufsätze aus seiner Jugend gelesen, ohne einen einzigen Fehler und inhaltlich unglaublich beeindruckend. Und entgegen der Legende redete er auch druckreif.

 

Schon auf dem Schutzumschlag Ihres Buches wirkt er anders, als man ihn kennt: schmal, intelligent, mit freundlichem Blick.

Als ich meinem Freund Wolf Biermann das Foto geschickt habe, hat er gesagt: „Ein Mensch“.

 

Biermann interessiert sich für Ulbricht?

Klar, für ihn ist Ulbricht Teil seiner Biografie. In meinem zweiten Band beschreibe ich, wie Ulbricht die DDR nach dem Mauerbau reformieren will und der konservative Flügel um Honecker ihn ausbremst. Das berühmte 11. Plenum, wo Robert Havemann, Stefan Heym, Wolf Biermann verboten werden, das hatte Ulbricht nicht geplant. Dazu ist er gezwungen worden, um seine Wirtschaftsreformen zu retten. Über Havemann hat er schützend seine Hand gehalten und sie dann weggezogen, um seine anderen Projekte zu retten.

 

Was stimmt noch alles nicht an dem Bild, das es über ihn gibt?

Er interessierte sich für Kunst, Literatur, Theater, Architektur. Und er hat mitnichten immer nur gemacht, was andere ihm gesagt haben, er war kein willenloser Karrierist, ganz im Gegenteil. An bestimmten Punkten hat er sogar seine Karriere aufs Spiel gesetzt.

 

An welchen?

Mitte der 20er-Jahre, als es um die Frage ging, welcher Flügel in der Partei sich durchsetzen wird, und er, ohne abzuwarten, welcher gewinnt, Position bezog. Oder in den 30er-Jahren, als er mit Pieck eine Minderheitenposition gegen die Mehrheit im Politbüro vertrat. Das Problem ist, dass wir dazu neigen, die Geschichte von ihrem Ende her zu betrachten, und weil Ulbricht immer überlebt hat, sieht es so aus, als ob er gemacht hat, was von ihm erwartet wurde. Aber bei meinen Recherchen habe ich begriffen, er ist auch große Risiken eingegangen.

 

Auch in Moskau während der stalinistischen Säuberungen, als die meisten seiner Genossen im Exil nach Sibirien verbannt und ermordet wurden?

Das Problem ist, dass die gesamte Forschung der Kommunismus-Geschichte von der Tendenz ausgeht: Wer überlebt hat, ist ein Schwein. Wer ermordet wurde, ist ein Guter. Tatsächlich aber war das Überleben unter Stalin genauso zufällig wie das Sterben. Bei den Massenmorden der deutschen Kommunisten wird suggeriert, Ulbricht und Pieck hätten mit dem NKWD am Tisch gesessen. Null! Die Russen haben sich einen Scheißdreck dafür interessiert, was die deutschen Kommunisten gesagt haben, die wurden nicht gefragt, und sie haben sogar interveniert. Zu wenig, könnte man sagen, aber sie haben sich ja auch selbst in Gefahr gebracht.

 

Ulbrichts Frau Lotte hätte es auch fast erwischt, schreiben Sie.

Ja, es gab Ermittlungen gegen sie. Ihr erster Mann, Erich Wendt, der später den Aufbau-Verlag gegründet hat, war angeblich Trotzkist, wurde im Gulag gefoltert, und Lotte wurde vor die Zentrale Kontrollkommission der Komintern gerufen, ihr Leben auseinandergenommen. Ulbricht hat sich ganz klar vor seine Lotte gestellt. Hätte man sie aus dem Verkehr gezogen und erschossen, wäre er genauso dran gewesen. Erkenntnisse wie diese führten mich zur Grundthese meines Buches: Natürlich mögen wir Leute wie Ulbricht, die die Mauer gebaut haben, nicht, natürlich war das schrecklich. Aber er war nicht immer ein Opportunist. Er hatte seine eigene Persönlichkeit, ist seinen eigenen Weg gegangen, und der hat ihn ein paarmal fast in den Abgrund geführt.

 

Was hat ihn angetrieben?

Der Marxismus-Leninismus, die Idee von einer gerechten, friedlichen Welt. Das prägende Ereignis für ihn war nicht der Erste Weltkrieg, sondern die gescheiterte Novemberrevolution. Da hat er begriffen, ohne eine Partei neuen Typus, ohne demokratischen Zentralismus, der nichts anderes als eine militärähnliche Struktur war, ist der Kommunismus nicht zu erreichen. Sein Ziel war nicht die Diktatur auf Dauer, er ist davon ausgegangen, dass sich Geschichte nach einem wissenschaftlichen Gesetz vollziehe: Vom Niederen zum Höheren.

 

Feudalismus, Kapitalismus, Kommunismus.

Er sah sich als Gehilfe dieses Geschichtsgesetzes. Und die Partei und die Diktatur des Proletariats waren für ihn nur vorübergehende Erscheinungen, um klare Verhältnisse zu schaffen, Konzern- und Bankenchefs aus dem Weg zu räumen. Diese Utopie haben sich Kommunisten wie er selbst zerstört, aber man kann ihnen nicht vorwerfen, sie hätten nicht daran geglaubt. Sie hatten außer Terror − zu dem auch die Mauer zählte − keine Antwort darauf, dass sich ihr Sozialismus nur im nationalen, nicht im globalen Maßstab, wie ursprünglich angenommen, vollzog.

 

Aber sie haben bis zum Schluss an ihre Utopie geglaubt.

Absolut. Sie hielten an ihrer Utopie aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik fest, wollten, dass die Leute satt werden, ein Dach über dem Kopf und warme Kleidung haben, das waren ihre Ziele. Mich beeindruckt sehr, wie sie sich Wissen aneigneten und politische Aktionen machten, ohne an sich selbst zu denken. Für eine Idee, aus einem tiefen Gefühl der Ungerechtigkeit heraus. Aber als sie das erreicht hatten, kamen sie nicht weiter, weil die Menschen sagten, das reicht uns aber nicht, wir wollen frei sein und uns nicht von alten Männern wie euch vorschreiben lassen, was wir zu denken haben.

 

Das Politbüro war nach 1945 mit Kommunisten, Juden, Widerstandskämpfern, die im KZ waren oder aus dem Exil zurückkamen, besetzt, mit Heldenfiguren. Das änderte sich schnell. Warum?

Die erste KPD-Versammlung nach dem Krieg fand im Kino Colosseum statt, tausend Kommunisten, die sich in die Arme fielen, sich freuten, wer überlebt hatte, es gab herzergreifende Szenen, Heil-Moskau- und Rot-Front-Rufe. Ulbricht hielt eine Rede und sagte: Genug! Diese Parolen aus der Weimarer Republik will ich nicht mehr hören.

 

Aber warum?

Er wollte die 1848er-Revolution und Novemberrevolution zu Ende bringen und den Kommunismus aufbauen mit Leuten, die aus dem bürgerlichen Milieu kamen, auch kleine Nazis gewesen waren. Er hatte gelernt: Wenn ich einen Staat haben will, der nach meiner Idee funktioniert, kann ich das nicht mit Kadern machen, die bis 1933 oder 45 in der KPD agierten und nun die alten Kämpfe fortführen wollen. Er vertraute auch jenen nicht, die nicht in der Sowjetunion im Exil gewesen waren, weil sich nicht überprüfen ließ, was sie in dieser Zeit gemacht hatten. Unbedingte Loyalität war ihm wichtig. Er konnte nicht vertrauen, ich weiß nicht warum, nur, dass er selbst auch extrem loyal war. Man merkt das an seinem Verhältnis zu seinen drei Frauen.

 

Martha, Rosa Michel und Lotte.

Alle drei sprachen sehr warmherzig über Ulbricht, verstanden sich untereinander super, standen auch nach seinem Tod in Kontakt. Und dabei sahen sie alle drei durchaus Ulbrichts charakterliche Grenzen.

 

Welche waren das?

Er misstraute allen außer Lotte. Schnell konnte er unwirsch werden, hatte ein großes Machtbewusstsein. Das macht per se einsam, immer und überall.

 

Seine Frauen waren nicht eifersüchtig aufeinander?

Überhaupt nicht. Sie kommen aus einer anderen Tradition. Lotte Ulbricht war eine Zeitlang standesamtlich mit zwei Männern gleichzeitig verheiratet, lebte aber mit Ulbricht zusammen, einem dritten Mann. Klingt seltsam, aber in dem kommunistischen Milieu von damals war es en vogue, freier miteinander umzugehen.

 

Lotte und er haben sich beim Schlittschuhlaufen in Moskau kennengelernt.

Ja, und drei Tage und Nächte lang nicht geschlafen, dann musste er weg, sie schrieben sich Briefe, deren Kopien ich habe. In ihnen spürt man die große Nähe. Sie schreibt: Mein Leben hat jetzt erst angefangen, du bist ein Teil von mir.

 

War er auch so überschwänglich?

Für seine Verhältnisse schon. Dass sie von Moskau nach Paris ins Exil geschickt wird, hat damit zu tun, dass Wilhelm Pieck gesagt hat: Solange die hier ist, ist der Ulbricht nicht voll einsatzfähig. Das zeigt, dass er kein Eisblock war. Er hatte zwei Gesichter, warm und fürsorglich nach innen, kühl und hart nach außen. Ab Mitte der 40er-Jahre war er der Einzige, der den Sowjets widersprochen hat. Sogar Stalin. Nur er konnte sich das leisten.

 

Wilhelm Pieck nicht?

Der sicher auch, aber der war ganz anders, meistens krank ab 1941, älter und eher wie ein Dandy, weißer Anzug und Hut, selbst auf dem kommunistischen Parteitag in Moskau. Pieck war ein freundlicher Typ, was Ulbricht nach außen nie war, das wurde ihm oft vorgeworfen. Aber ich verstehe das.

 

Dass Ulbricht nicht freundlich war?

Ja, Dauerfreundlichkeit geht mir auf den Docht.

 

Interessant, dass Sie das selbst so sagen. Wenn man Sie über Ulbricht reden hört, klingen Sie anders, differenzierter, weicher als sonst in Ihren Tweets und Posts in den sozialen Medien.

In den sozialen Medien bin ich nicht Historiker, sondern nur Bürger. Wer mich als Historiker kennenlernen will, muss meine Bücher und Aufsätze lesen und nicht Tweets mit 27 Zeichen. Die sozialen Medien sind für mich ein Experimentierfeld, ich knalle eine Meinung hin und gucke, wie die Reaktionen darauf sind.

 

Um zu wissen, wie weit Sie gehen können?

Das ist für mich wie ein Training, und ich nehme es auch nicht so ernst. Ich habe erst in der Corona-Zeit damit angefangen, als ich in Bayreuth, wo wir unseren Zweitwohnsitz haben und wo ich den Ulbricht schrieb, länger allein war. Wegen meiner Krankheit (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome, d. Red., BLZ) hatte ich viel Zeit und wollte meine soziale Isolation durchbrechen.

 

Hat das funktioniert?

Nee, überhaupt nicht. Wusste ich aber nicht, und jetzt muss ich da irgendwie wieder rauskommen. Ich nehme mir jeden Monat aufs Neue vor, dass ich aufhöre. Man kommt, was ich nicht wusste, aus seinen Blasen nicht raus. Egal, was ich schreibe, es kommen fast die gleichen Reaktionen von den meist gleichen Leuten. Was immer gut läuft, ist Persönliches. Der erfolgreichste Post überhaupt war der zum 30. Unfalltodestag meines Vaters.

 

Das war Ihre weiche Seite.

Genau.

 

Aber Katja Hoyer, die junge Ostdeutsche, die in London lebt und einen Bestseller über die Geschichte der DDR geschrieben hat, sind Sie auch als Historiker scharf angegangen.

Ich habe ihr vorgeworfen, dass sie Alltag und Diktatur trennt, dass sie sagt, der Staat hatte mit der Gesellschaft nichts zu tun. Sie weiß nicht, wovon sie redet. Von den Theorien, vom Forschungsstand, von den Debatten hat sie keine Ahnung. Aber ich kritisiere − im Gegensatz zu anderen − nur ihr Buch, nicht sie. Dass ihr vorgeworfen wird, was ihre Eltern in der DDR gemacht haben, finde ich unanständig, und das ist noch freundlich ausgedrückt. Was mich wirklich interessiert, ist, warum dieses Buch so einen Erfolg hat.

 

Vielleicht, weil es aus einer anderen, jüngeren Perspektive geschrieben ist, die DDR differenzierter, neutraler dargestellt wird. Wie Walter Ulbricht in Ihrem Buch.

Ich schreibe nicht neutral über Ulbricht. Was soll „neutrales Schreiben“ sein?! Aber sie lässt so viel weg. Der Staat ist für sie böse, den verharmlost sie ja gar nicht, aber sie tut so, als hätten all die Ernas und Horsts nichts mit dem Staat zu tun gehabt, und verzerrt dadurch das Bild dieses Landes auf ein groteske Art und Weise. Eine Diktatur wirkt in jeden Zipfel, bestimmt das alltägliche Verhalten. Die meisten haben das vergessen, es kommt in ihren Erzählungen über ihren Alltag nicht mehr vor, wirkt aber bis heute nach. Und man kann es nur überwinden, wenn man sich damit auseinandersetzt. Deshalb zählt zu meinem Selbstverständnis als Historiker auch, öffentliche Diskussionen anzustoßen, zu provozieren.

 

Bücher über die DDR werden, das zeigt HoyersWerk, überwiegend im Osten gekauft und vom Westen ignoriert. Fürchten Sie, es könnte auch Ihrer Ulbricht-Biografie so ergehen?

Mein Buch erscheint im renommierten Verlag C. H. Beck, die Leser sind in der Regel klassisches westdeutsches Bildungsbürgertum. Wenn es dann noch Rezensionen in der Zeit oder der SZ gibt, wird es sicher im Westen gekauft, wenn auch nicht unbedingt gelesen. Ist mir aber herzlich egal. Als ich das Buch schrieb, über Jahre versunken in meiner eigenen Welt, war mir klar, ich schreibe das für niemanden sonst als für mich, ohne Adressaten im Kopf. Mein Ziel ist, dass es über den Tag hinaus Bestand hat. Das funktioniert nur in Abwesenheit von Ideologie und Sensationslust.

 

In Ihrem Buch fallen die Parallelen auf zu heute: Pandemie, Inflation, Wirtschaftskrise, der Aufstieg der Rechten. Wiederholt sich die Geschichte?

Erstens: Geschichte wiederholt sich nicht. Zweitens: Wir leben in so einer materiellen Sattheit, dass es grotesk wäre, das Jahr 2023 mit dem Jahr 1923 auch nur ansatzweise zu vergleichen. Mir ist natürlich bewusst, dass viele ihre eigene Lebenssituation hier in Deutschland als unfassbare Lebenskrise wahrnehmen und als ausweglos. Als Historiker kann ich nur sagen: Ich weiß nicht, wovon ihr redet. Als politischer Bürger sage ich: Macht mal Nachrichten an, schaut mal über die Landesgrenzen und die Grenzen Europas hinaus. Das Einzige was mir dann noch einfällt, ist tiefe Scham. Ja, ich schäme mich für diese globalen Ungerechtigkeiten und das Geschreie hier in einem der reichsten Länder der Weltgeschichte.

 

Was würde Walter Ulbricht zu Ihrem Buch sagen?

Er würde lachen und sich ärgern. Weil er wüsste, was falsch ist, was fehlt. So eine Biografie ist eine Erfindung, hat Lücken und Fehlinterpretation. Und es gehören Mut und Skrupellosigkeit dazu, eine Biografie zu schreiben.

 

Wer ist der nächste, den Sie sich vornehmen? Thälmann?

Thälmann wäre absolut nötig, ist aber weniger spannend, als viele glauben. Er blieb immer ein Hamburger Dock-Arbeiter, war nie so helle wie Ulbricht.

 

Aber er ist – anders als Ulbricht – ein Mythos, eine Heldenfigur geworden.

Weil er ermordet wurde.

 

Wenn Ulbricht ermordet worden wäre, damals in Moskau, wäre er dann heute auch ein Held?

Nein. Wir würden uns nicht für ihn interessieren. Er wäre nur einer von vielen, die im Gulag verschwunden sind. Die Menschen interessieren sich mehr für die Täter als für die Opfer.

Berliner Zeitung vom 15./16. Juli 2023, Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Autorin, online.

Ilko-Sascha Kowalczuk: Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist (1893-1945), Verlag C.H. Beck, München 2023, 1006 Seiten, 58,00 Euro.