26. Jahrgang | Nummer 16 | 31. Juli 2023

Zeiten der Wirren um den Kreml

von Detlef Jena

Wer die innerrussische Organisationsbrillanz kennt, hat ungläubig die Augen verdreht: Jewgeni Prigoschins Wagner-Gardisten waren unlängst in Rostow am Don mit gehöriger Truppenstärke und schwerer Kriegstechnik gen Moskau aufgebrochen. Unterwegs hatten sie noch flugs das niedliche Woronesh und  danach Lipezk besetzt. Binnen weniger Stunden waren sie quasi vor den Toren des Kremls aufgetaucht, um dann vor einem Bagger, der gerade die Autobahn zwecks Barrikadenbildung aufbrach, innezuhalten: Sorry, war nicht so gemeint! Eine für russische Organisatoren schier unglaubliche logistische Meisterleistung – doch wozu?

Ein Ergebnis war sofort greifbar: Seit dem Februar 2022 sind niemals so viele Experten in der Welt der Kremlastrologie aufgetreten, die nun aber wirklich den baldestmöglichen Sturz Putins angekündigt haben. Doch was tat die westliche Politik in ihrer sehnsuchtsvollen Magie einer freiheitlich-demokratischen Ukraine? Sie hielt sich auffällig demonstrativ in der Bewertung zurück: Das ist innerrussisch und geht uns nix an! Ein Schelm, wer sich Arges dabei denkt.

Die ganze Story erinnert ein bisserl an den Grigori Otrepjew, der am Beginn des 17. Jahrhunderts im Auftrag des Königs von Polen-Litauen den Moskauer Zarenthron bestieg und als falscher Dmitri I. zum Synonym einer Zeit der innerrussischen Wirren wurde. Otrepjew soll um 1580 geboren worden sein, wurde in einem Kloster erzogen. In die Weltgeschichte trat er als Wandermönch Grigori ein, der es bis in die heiligen Gemächer eines Klosters im Moskauer Kreml schaffte. Das gelang westlichen Russlandexperten schon damals nicht. Der junge Grigori schwörte wohl auf die Einheit von Autokratie und Orthodoxie. Er begriff aber auch, dass es da starke personelle Konkurrenten gab. Gut beraten war jeder pfiffige Intrigant, der innere Kabalen für sich nutzen konnte. Zar Iwan der Schreckliche hatte seinen Sohn Dmitri als legitimen Nachfolger auf dem Thron hinterlassen. Der machtgierige Emporkömmling Boris Godunow neidete ihm diese Last und wollte den Jüngling ermorden lassen. Doch die Mutter versteckte den Prätendenten und nicht einmal westliche Reporter konnten ihn befragen, wie sich Zar im Versteck anfühlt. Er ist allerdings vermutlich bereits 1591 ermordet worden.

Der Mönch Grigori stieg in das Geschäft ein. Er tauchte unerwartet auf dem Landsitz des polnisch-litauischen Fürsten Adam Wisniowiecki auf und behauptete, der rechtmäßige Thronerbe Dmitri zu sein. Da musste man im katholischen Großreich Polen-Litauen nicht besonders genau nach der Echtheit forschen. Der Lockruf des Moskauer Zarengoldes tönte gewaltig. Selbst der Papst stimmte über seine Prälaten und den päpstlichen Nuntius in Krakau, Claudio Rangoni, einer Intervention in Moskau zu. Otrepjew wurde schnellstmöglich katholisch sozialisiert und verlobte sich 1604 mit Marina Mniszech, einer Tochter Jerzy Mniszechs, des Wojewoden von Sandomierz. Sollte er dereinst in Moskau herrschen, wollte er dem Wojewoden die russischen Gebiete um Pskow, Nowgorod, Smolensk und Nowhorod-Siwerskyj schenken. Das war etwas vorschnell versprochen, denn allein Polens König Sigismund III. entschied letztlich, welcher polnische Adlige Privilegien erhalten würde, wenn er sich an dem Feldzug gegen den zarischen Wüterich Boris Godunow beteiligte.

Godunow, der einst zu den engsten Gefolgsleuten Iwans des Schrecklichen gehört und den Zarenthron auch nur usurpiert hatte, wurde in Moskau nicht sonderlich geliebt. Es war für Otrepjew und die polnischen Hintermänner nicht schwer, aus der privilegierten Bojarenschicht oppositionelle Kräfte auf ihre Seite zu ziehen.

Deren Wortführer Wassili Schuiski, der selbst Ambitionen auf den Zarenthron hegte, bestätigte die Identität Otrepjews als rechtmäßigen Prätendenten Dmitri. Das reichte. Otrepjew zog im Oktober 1604, unterstützt von polnisch-litauischen Truppen und im Einvernehmen mit Sigismund III. gegen Moskau.

Der Durchbruch gelang jedoch nicht. Lediglich der unerwartete Tod Boris Godunows bewahrte ihn vor einem Fiasko. In Tula musste er abwarten, ob die westlichen Verbündeten neue Waffen schickten und wie sich die Lage in Moskau entwickelte. Dort regierten Verrat und Selbstsucht. Godunows Frau und Sohn wurden ermordet.  Bojaren zwangen die Moskauer Truppen, zu Otrepjew überzulaufen.

Am 21. Juni 1605 zog der falsche Dimitri in Moskau ein und wurde am 21. Juli 1605 zum Zaren gekrönt. Nicht ungeschickt besuchte er sofort das Grab Iwans des Schrecklichen und das Kloster, in dem dessen Witwe lebte. Maria Nagaja kooperierte und erkannte ihn wider besseres Wissen als ihren leiblichen  Sohn Dmitri an.

Da saß nun der politisch ungeübte Selbstdarsteller von Polens Gnaden im Moskauer Kreml. Wie sollte er in dieser Schlangengrube seine Macht behaupten? Er wählte den gefährlichsten Weg. Vielleicht ist ihm nicht einmal bewusst gewesen, dass er sein eigenes Schicksal dem großen Ost-West-Konflikt zwischen der orthodox-autokratischen und der katholischen Welt Europas auslieferte.

Als Selbstherrscher wollte er eine selbstständige Politik führen. Er rüttelte an den Grundfesten des Staates, indem er den Kleinadel mit Land versorgte und die Leibeigenschaft ein wenig lockerte. Das rief sofort den Zorn der Aristokratie hervor. Dafür hatte man ihm nicht zum Thron verholfen! Auch die polnischen Verbündeten drängten ungeduldig auf die Einlösung der versprochenen Geschenke. Die Abtretung von Landesteilen und Soldaten für den polnischen Krieg gegen Livland Dmitri die Grundlagen seiner ohnehin fragilen Macht entzogen. Er war ohnehin von seinen westlichen Geldgebern bereits vollständig abhängig. Als er im Herbst 1605 Marina Mniszech offiziell heiratete, zog diese im Frühjahr 1606 demonstrativ unter dem Schutz polnischer Soldaten in Moskau ein. Tagelang spreizten sich diese Soldaten in ihrer polnischen Kleidung auf Moskaus Straßen, begleitet von einem Schwarm ausländischer Kaufleute, die nach gewinnbringenden Investitionsmöglichkeiten forschten. Das Volk begann zu murren. Zweifel machten die Runde, ob Väterchen Zar wirklich zu den ehernen Gesetzen der Orthodoxie im „Dritten Rom“ steht. Gerüchte liefen um, die polnischen Krieger seien nur gekommen, Moskaus Thron zu okkupieren und das gläubige orthodoxe Volk zu massakrieren. Wenn der Selbstherrscher die Macht nicht mehr garantieren konnte, musste er weg! Erneut trat Fürst Schuiski in Aktion. Er zettelte am 17. Mai 1606 eine Revolte an, bei der Dmitri getötet wurde.

Seine Leiche wurde auf dem Roten Platz ausgestellt und verbrannt, die Asche mit einer Kanone in Richtung Westen geschossen, was den polnischen König jedoch wenig beeindruckte. Er musste die Nachfolge auf dem Moskauer Thron regeln. Dmitris Parteigänger wurden entmachtet und erwartungsgemäß bestieg Schuiski als Zar von Polens Gnaden Wassili IV. den Thron. Er hielt sich immerhin vier Jahre, ehe er gestürzt und als polnischer Gefangener nach Masowien gebracht wurde. Also: Weder ein falscher Dmitri noch Bojar Schuiski, noch zwei weitere falsche Dmitris auf dem Zarenthron brachten Polens König auch nur einen einzigen Schritt seinem wahren Ziel näher.

Wenn es denn partout kein gekaufter Taschenspieler schaffte, mussten eben die eigenen Truppen marschieren: 1609 begann der polnisch-russische Krieg, in dem Moskau und der Kreml von Polen erobert wurden. Aber das ging der russischen Zivilgesellschaft dann doch zu weit. 1612 organisierten die Herren Kusma Minin und Iwan Posharski einen Volksaufstand und mit bewaffnetem Aufruhr vertrieben die Polen aus Moskau. Schön und gut. Russlands Untertanen bekamen mit den Romanows eine neue Zarendynastie, aber der Krieg gegen Polen währte weitere sechs Jahre, ehe 1618 im Vertrag von Deulino ein Waffenstillstand vereinbart werden konnte, der Polen zwar die vom falschen Dmitri versprochenen Gebiete eintrug, aber die von der polnischen Krone unabhängige Souveränität Moskaus bestätigte. Letztendlich stieg Moskau innerhalb eines Jahrhunderts zur europäischen Großmacht auf und das einst stolze Königreich Polen-Litauen büßte seinen historischen Platz ein. So hatte sich das auch der Papst in Rom nicht gedacht, als seine heiligen Wünsche 1604 den Mönch Grigori auf dem Weg nach Moskau begleiteten. Doch das Rad der Geschichte dreht sich immer weiter …