Es soll ja ernste Überlegungen in den sozialen Medien geben, ob man den altbekannten Gassenhauer: „Ich bin die Christel von der Post …“ überhaupt noch singen darf. Warum? Ja, das weiß in diesem Metier niemand so recht. Es wird eben einfach behauptet und in die Welt gesetzt, vielleicht, weil die Deutsche Post sich selbst zu Grabe trägt. Das musste so kommen:
Als das Bundespostministerium 1997 aufgelöst wurde, damit sich die Damen und Herren hoch auf den gelben Wagen gefälligst der privaten wirtschaftlichen Konkurrenz stellen, mussten sie sich bereits gründlich überlegen, ob sie mit weiteren Preiserhöhungen ihre treuen Kunden vergraulen wollten. Der Preis war für die Abkehr von der Ära staatlicher Oberaufsicht und Organisation über die schwarz-gelben Hörner sehr hoch. Jetzt wollen die Postillione nicht einmal mehr „Post“ heißen, überlegen, ob sie überhaupt noch jeden Tag die Post austragen und nennen sich verschämt „DHL Group“ – das klingt so verdammt amerikanisch. Was nützt es jedoch den fleißigen Zustellerinnen auf Abruf in Stadt und Land, wenn nachts in Leipzig die gelben Flieger bis nach Fernost starten?
Wer sich heute mit der Goethezeit beschäftigt, staunt immer wieder, wie akkurat damals der Postbetrieb gearbeitet hat. Kein Literaturwissenschaftler, der sich in Goethes Liebesschwüre gegenüber der Frau von Stein vertieft, hätte Chancen auf einen Lehrstuhl, wenn die Post damals nicht so fleißig die vielzähligen Brieflein hin und her getragen hätte. So ist das Goethelob zugleich ein nostalgisches Hoch auf die rührigen Herren von Thurn und Taxis.
Aber die Postkutschen aus dem Biedermeier, wie sie von Carl Spitzweg einst verträumt, anheimelnd und wider die Reichspolitik des Fürsten Metternich gemalt worden sind, stehen natürlich längst nicht mehr zur Debatte. Obwohl die öffentlich-rechtlichen Medien beispielsweise im Zusammenhang mit dem britischen Königshaus weder Kosten noch Mühen scheuen, dem vereinten Bundesbürger zu suggerieren: Monarchie ist auch nicht so übel! Also bitte:
Wir geben uns königlich-kaiserlich bescheiden und erinnern an den 7. Januar des Jahres 1831. Damals wurden in den deutschen Landen noch immer liberal-demokratische Professoren, Journalisten aus ihren Ämtern verjagt. Die Pressezensur tobte. Die Flucht in der Postkutsche und ins benachbarte Fürstentum war bisweilen die einzige Rettung. Die 48er Revolution lag noch in weiter Ferne – ebenso das neue deutsche Kaiserreich. Aber große Wendepunkte in der Geschichte werden bekanntlich von langer Hand und durch tiefgreifende soziale Bewegungen vorbereitet. Es sei denn, munter tätige Sozialdemokraten entschließen sich urplötzlich zur Proklamation selbst erfundener Zeitenwenden, die sie prompt missverstehen und in der politischen Praxis gar nicht beherrschen.
An diesem 7. Januar 1831 wurde in Stolp ein Knabe geboren, den man auf den nichtssagenden und unbedeutenden Namen Heinrich taufte. Aber Heinrich Stephan erwies sich mit zunehmendem Alter als ein Mann, der einen klugen und klaren Blick für wirtschaftliche Erfordernisse und politische Notwendigkeiten besaß. Er gilt in der Geschichte als der entscheidende Gründer und Organisator des modernen deutschen Postwesens.
Im Jahre 1870 berief man ihn zum Generalpostmeister des von Otto von Bismarck dirigierten Norddeutschen Bundes. Nach dem deutsch-französischen Krieg und der Reichsgründung 1871 konnte der Heinrich Stephan mit dem schneidigen Titel seine Posthörner über das ganze Deutsche Reich erschallen lassen: 1876 wurde er zu dessen Generalpostmeister ernannt. Offenbar waren seine Verdienste sehr groß und er beschleunigte den Transport von Briefen und Päckchen derart, dass weitere Beförderungen in der eigenen Karriere unausweichlich wurden. 1880 war er bereits Staatssekretär im Reichspostamt und nach weiteren 15 Jahren hatte er sich gar bis zum Minister hochgedient. Den Adelstitel gab es obendrein. Und wenn der getreue Heinrich von Stephan nicht 1897 gestorben wäre, hätte er sicherlich noch weitere postalische Ruhmestaten an die Hörner binden können.
Es wäre aber zu einfach, betrachtete man den Generalpostmeister lediglich als preußisch-korrekten Karrierebeamten. Er bewies in vieler Hinsicht großen Weitblick. Zwei Entscheidungen besaßen säkularen Charakter: Er bündelte das Post- mit dem Telegraphen- und Fernsprechwesen in einer geschlossenen Postorganisation. Das war eine technologische Notwendigkeit und vor allem ganz im Sinne imperialistischer Reichspolitik, erleichterte es doch die Überwachung politisch missliebiger Personen und schmierte die Kriegsmaschine in zwei Weltkriegen.
Gerade die Tatsache, dass dieses von Stephan geknüpfte Netz 1997 entflochten wurde und der Staat sich mehr und mehr aus seiner Rolle als Obrigkeit zugunsten eines freien Unternehmertums und marktwirtschaftlichen Wettbewerbs zurückzog, dokumentiert die großen Hoffnungen, die in Deutschland in die marktkonforme Demokratie gesetzt wurden.
Die zweite große Tat Heinrich von Stephans war die Gründung des Weltpostvereins. Im Jahre 1874 schuf er eine Organisation, die 1878 nach dem Abschluss des Weltpostvertrags den Namen Weltpostverein erhielt. Seit dem Jahre 1948 ist der Weltpostverein eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen und trägt auf seine Weise zu den Anstrengungen bei, unsere Welt ein wenig friedlicher zu stimmen.
Der Weltpostvertrag von 1874 regelt die internationale Zusammenarbeit der Postunternehmen und -behörden, die Rahmenbedingungen des grenzüberschreitenden Postverkehrs und die Abrechnung der dabei anfallenden Gebühren. Bis heute besteht die Hauptaufgabe des Weltpostvereins in der Sicherstellung einer weltumspannenden, zeitnahen Zustellung von Briefen und Paketen über Länder- und Sprachgrenzen hinweg. Die Notwendigkeit einer koordinierenden Instanz wie des Weltpostvereins wird deutlich angesichts der Zahlen, die das weltweite Postwesen beschreiben: Man zählte 2014 etwa 5,2 Millionen Postmitarbeiter. Fällt Deutschlands Mitwirkung nun flach, wenn hierzulande keine Post mehr, sondern eine „DHL Group“ betrieben wird?
Und eine ganz ernste Frage: Die Ukraine ist seit 1947 Mitglied im Weltpostverein – über Systemgrenzen hinweg. Können wir auch künftig noch ungehindert dicke Waffenpakete nach Kiew schicken? Andererseits: Die Russische Föderation gehörte 1875 zu den Gründern des Weltpostvereins. Wie kann die „DHL Group“ die ungehinderte Zustellung der Sanktionspost an den russischen Präsidenten sichern – oder die telefonische Kommunikation mit dem Kreml? Fragen über Fragen. Hat man je gehört, dass der Weltpostverein mit seiner gefestigten internationalen Struktur und Verbindlichkeit als Mittler der Vereinten Nationen sein politisches Gewicht auf die Waage der Friedensstifter im russischen Krieg gegen die Ukraine wirft? Es ist allerdings nicht anzunehmen, dass die deutsche Post aus diesem Grund fürderhin nicht mehr in ihr geliebtes Horn stoßen will. Denn eines Tages wird auch dieser Krieg sein Ende finden. Wie die Bedingungen auch sein werden und welche Territorien und Grenzen welchem Staat auch immer zugerechnet werden (es wird noch viele Talkshows geben, in denen selbst ernannte Experten darüber spekulieren dürfen), die Post wird ihre völkerverbindende Mission nicht verlieren. Die Post hat dafür über Jahrhunderte hinweg beste Traditionen geschaffen. Die berühmte Christel von der Post bleibt ein ewiges Schönheitssymbol, selbst wenn sie jetzt in Deutschland Cowboystiefel tragen muss.
Schlagwörter: Detlef Jena, DHL-Group, Heinrich von Stephan, Post, Weltpostverein