26. Jahrgang | Nummer 15 | 17. Juli 2023

E. A. Poe und der Fall Richard Parker

von Frank-Rainer Schurich

Der junge Edgar Allan Poe (1809 bis 1849), mit zwei Jahren Vollwaise, konnte zunächst alle Vorzüge eines gut betuchten Großbürgerhaushalts genießen, verarmte aber, als ihm sein Wahlvater, der Kaufmann John Allan, aus unbekannten Gründen jegliche finanzielle Unterstützung entzog. Er war ein genialer US-amerikanischer Schriftsteller, zudem ein Pionier der Forensik, ein Mann, dessen präzise Beobachtungsgabe und Klarheit in den logischen Schlüssen ihn zum Begründer der modernen scharfsinnig-geistreichen Kriminalliteratur machten.

Seine meisterhaften Detektiverzählungen („Der Doppelmord in der Rue Morgue“, „Das Geheimnis um Marie Rogêts Tod“) bezeichnete E. A. Poe selbst als Geschichten der logischen Folgerung („Stories of Ratiocination“), da sie ihre Spannkraft aus der schrittweisen und rein verstandesmäßigen Auflösung einer scheinbar unerklärlichen Anfangssituation schöpften. Poes scharfer Geist findet sich in dem von ihm geschaffenen Monsieur C. Auguste Dupin wieder – dem ersten wirklichen Detektiv der Weltliteratur. Von Arthur Conan Doyle, dessen berühmter Detektiv Sherlock Holmes nach dem Vorbild von Poes Dupin geschaffen wurde, bis zu Edgar Wallace fußen die meisten amerikanischen, englischen und französischen Verfasser von Kriminalerzählungen auf Poe.

Zur Fernwirkung von Edgar Allan Poe gehört, dass seine pseudowissenschaftlichen Erzählungen Jules Verne („Reise um die Erde in 80 Tagen“, „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“) anregten, und die abenteuerlichen und Horror-Geschichten von Robert Louis Stevenson („Die Schatzinsel“, „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“) dürften von Poes Werk wesentlich beeinflusst sein.

Poe schrieb nur einen Roman: „The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket“, ein Titel, der in deutschen Ausgaben oft verkürzt wurde, so zum Beispiel als „Die Abenteuer Gordon Pyms“. Das Buch wurde 1837 in den Januar- und Februar-Nummern des Southern Literary Messenger veröffentlicht, 1838 dann in Buchform beim Verlag Harper.

Der Roman handelt, von einem 16-jährigen Jungen, der sich bei seinen Seeabenteuern dank einer unglaublichen Erfindungsgabe wiederholt aus Lebensgefahr retten kann. Sein Vater betreibt auf der Atlantik-Insel Nantucket, rund 300 Kilometer östlich vor den Toren New Yorks, ein angesehenes Schiffsausrüstungsgeschäft.

Im zwölften Kapitel kommt es allerdings zu einer Extremsituation. Die vier Schiffbrüchigen, Arthur Gordon Pym, sein Freund Augustus Barnard, Dirk Peters und Richard Parker, die sich tagelang ohne Wasser und Nahrung am Leben gehalten hatten, beschlossen, einen zu opfern, damit die anderen leben können. Das Los entschied. Parker leistete keinen Widerstand und wurde von Peters rücklings erstochen. Eine grausige Mahlzeit folgte …

Karl-Heinz Wirzberger, der ehemalige Rektor der Humboldt-Universität zu Berlin und exzellente Kenner der US-amerikanischen Literatur, kommentierte den Kannibalismus bei E. A. Poe wie folgt: „Und als Mensch, der über Nacht herabgesunken war zu den Ärmsten der Armen, konnte er auch nicht übersehen, dass die vom Wolfgesetz diktierte Jagd nach materiellen Gütern mit einer Verschärfung der sozialen Gegensätze bezahlt wurde, mit Kriegen, mit Wirtschaftskrisen, die das Land überliefen, mit einer Aushöhlung von Moral und guten Sitten, wie sie in den ‚Abenteuern Gordon Pyms‘ etwa in der Menschenfresserei zum Ausdruck kommt, deren sich selbst der von Poe sonst als Muster der Humanität gezeichnete Held trotz des eigenen Entsetzens vor diesem Absinken in die primitivste Bestialität nicht enthalten kann.“

E. A. Poe, obwohl er Visionär war, wusste natürlich nicht, dass es 35 Jahre nach seinem Tod einen wirklichen Fall Richard Parker geben wird.

Ein australischer Rechtsanwalt kauft im Jahr 1883 in England die Segelyacht „Mignorette“, die von Southampton nach Australien über mehrere Ozeane überführt werden muss. Es ist schwierig, eine erfahrene und ausgebildete Mannschaft anzuheuern. Schließlich gelingt es. Kapitän Tom Dudley, die Mannschaft mit den Seeleuten Edwin Stephens und Edmund Brooks sowie dem gänzlich unerfahrenen Kabinenjungen Richard Parker, 17 Jahre alt, laufen am 18. Mai 1884 aus.

Nordwestlich des Kaps der Guten Hoffnung gerät die Yacht am 5. Juli 1884 in einen Sturm. Das Schiff wird derart beschädigt, dass es innerhalb von fünf Minuten sinkt. Die Seemänner retten sich in allerletzter Not in ein rund vier Meter langes Rettungsboot – mit zwei Dosen Rüben und ohne Süßwasser. Unterwegs fangen sie eine Schildkröte und verspeisen sie.

Am 16. oder 17. Juli wird wohl das erste Mal darüber gesprochen, dass jemand sterben müsse, um den anderen drei als Nahrung zu dienen. Als Richard Parker ohnehin durch Seewasserkonsum sehr krank wird, ist die Entscheidung auch ohne Los gefallen. Da die Schiffbrüchigen annehmen, dass Parkers Blut genießbarer sei, wenn er nicht eines natürlichen Todes stirbt, schreiten sie zur Mordtat. Dudley spricht ein Gebet und sticht mit seinem Taschenmesser in Parkers Halsvene. Stephens fixiert die Beine des Jungen, falls dieser sich wehrt. Richard Parker murmelt nur „Was, ich?“, bevor er stirbt und verzehrt wird.

Am 29. Juli 1884 werden die Überlebenden von der deutschen Bark „Montezuma“ gerettet. Dudley, Stephens und Brooks werden am 6. September in Falmouth (Cornwell) abgesetzt, da dieser Hafen auf der Route des deutschen Schiffes liegt. Die drei kannibalistischen Schiffbrüchigen werden verhaftet, Edwin Brooks aber wegen minderer Schuld nicht angeklagt. Die Idee der Staatsanwaltschaft ist, dass Brooks dann als Zeuge im Verfahren gegen Dudley und Stephens belastend aussagen könne.

Es gibt mehrere Gerichtsverfahren, zuerst am Schwurgericht für Cornwall und Devon in Exeter, dann im 2. Gericht der Royal Courts of Justice in London. Am 4. Dezember 1884 tagt die „Queen’s Bench Division“, fünf Tage später wird das Urteil gesprochen: Dudley und Stephens werden wegen Mordes zu der gesetzlich vorgesehenen Todesstrafe verurteilt. Jedoch wird eine Begnadigung empfohlen.

Nach weiteren juristischen Querelen (zum Beispiel durch den Vorwurf, dass die Kammer der Jury vorenthalten hatte, auf Totschlag zu entscheiden) und der Befürchtung, dass die Todesstrafe nicht der öffentlichen Meinung standhalten würde, entscheidet Innenminister (!) Sir William Harcourt in Abstimmung mit dem Generalanwalt auf ein Strafmaß von nur sechs Monaten Haft. Dudley und Stephens sind dennoch sehr enttäuscht – sie waren sich offenbar keiner Schuld bewusst.

Juristen meinen, dass nach den damaligen und heutigen deutschen Gesetzen (§ 35 Strafgesetzbuch) Dudley und Stephens nicht bestraft worden wären, weil sie im „Entschuldigenden Notstand“ handelten. Dieser gilt auch für den Fall, so heißt es in einem Kommentar, dass sich ein Schiffbrüchiger nur dadurch retten kann, indem er von einer Schiffsplanke, die nur einen Menschen trägt, einen anderen herunterstößt, so dass dieser ertrinkt.

Im Roman „Schiffbruch mit Tiger“ von Yann Martel, 2001 in Kanada erschienen und in Deutschland viele Monate auf der Bestsellerliste, spielt wider Erwarten ein Richard Parker mit. Es ist ein bengalischer Tiger, der als Schiffbrüchiger 227 Tage auf See überlebt und letztlich im mexikanischen Dschungel auf Nimmerwiedersehen entschwindet.

Zu den Zufällen der Weltgeschichte gehört auch, dass 28 Jahre nach dem Untergang der „Mignorette“ wiederum ein Schiff von Southampton aufbricht – die „Titanic“. Das damals größte Schiff der Welt versinkt bei seiner Jungfernfahrt nach New York am 15. April 1912 im Atlantik, nachdem es auf westlichen Kurs in Richtung Feuerschiff Nantucket gedreht hatte …