Die Berliner Dürer-Sammlung zählt heute weltweit zu den drei bedeutendsten der Handzeichnungen und Druckgraphiken dieses großen Renaissance-Meisters. Seit der Gründung des Kupferstichkabinetts (KK) 1831 wurden die meisten der in Berlin aufbewahrten Dürer-Werke hier zusammengeführt. Aber Dürer diente schon 1828 im 300. Todesjahr als Integrationsfigur für eine kulturelle Identität. Dem Berliner klassizistischen Dreigestirn Schinkel, Rauch und Schadow bot sich die Gelegenheit, sich selbst in diese bedeutende Tradition einzureihen. Rauchs Dürer-Denkmal war überhaupt das erste in Bronze gegossene Künstler-Standbild. 1871, im 400. Geburtsjahr Dürers, kam es zur Herausgabe eines Prachtbandes der Berliner Dürer-Zeichnungen, der auf die vernichtende Kritik des Wiener Kunsthistorikers Moriz Thausing stieß. Er bezeichnete viele Blätter als Fälschungen, die dann auch später dem Augsburger Bildhauer Hans Schwarz zugeschrieben wurden. Das führte zu einer strukturellen Revision und strenge wissenschaftliche Kriterien zugrunde legenden Erweiterung der Sammlung. Friedrich Lippmann gelang es, für das KK bedeutende Dürer-Sammlungen und auch Einzelblätter wie die ergreifende Bildniszeichnung von Dürers Mutter Barbara zu erwerben und die Berliner Sammlung wieder auf die Höhe seiner Bedeutung zurückzuführen. Er begann mit der Publikation eines illustrierten Corpus der Dürer-Zeichnungen in „Nachbildungen“, die dann von Max J. Friedländer und Friedrich Winkler fortgesetzt wurde.
Die durch die Spaltung Deutschlands getrennte Dürer-Sammlung – ein Teil in Berlin-Dahlem, der andere Teil auf der Berliner Museumsinsel – wuchs nach der Wiedervereinigung 1989/90 wieder zusammen. Die gesamte Werkentwicklung Dürers von der ersten signierten Zeichnung bis zu seinem Tod 1528 kann das KK sichtbar nachvollziehen. Das hat Michael Roth als Kurator unter Mitarbeit von Lea Hagedorn und Silvia Massa in einer großangelegten Schau unternommen. Es werden im Kulturforum 130 Meisterwerke der Berliner Sammlung präsentiert, aber auch die so wechselvolle Geschichte dieser einzigartigen Sammlung, ihrer Erwerbungen, Zu- und Abschreibungen wie Verluste veranschaulicht.
Zunächst versetzt natürlich die Ehrenpforte für Kaiser Maximilian I. (um 1512-1518) in Erstaunen. Es ist der größte je geschaffene Holzschnitt überhaupt (mit einer Gesamthöhe von 3,5 Metern), der spätestens 1852 in die Berliner Sammlung kam. Ihre farbige Version wurde auf der Museumsinsel aufbewahrt, eine im ursprünglichen Schwarz-Weiß belassene zweite Version kaufte 1971 das KK in Berlin-Dahlem an. So können nun beide Versionen des als Epitaph gedachten Monumentalwerkes gezeigt werden, wobei diese zweite Version eine erklärende Textlegende enthält, aus der das komplette Bildprogramm zum Hause Habsburg und zu Kaiser Maximilian I. erschlossen werden kann.
Seine frühen großformatigen Landschaftsaquarelle hat Dürer als Nebenprodukte angesehen. Dabei sind die „Drahtziehmühle“ (um 1489 oder 1494) und „Tal bei Kalchreuth“ (um 1495-1500) Schlüsselwerke der frühen Landschaftskunst. Dürer hat identifizierbare topografische Orte aufgegriffen – beide sind in der unmittelbaren Gegend von Dürers Heimatstadt Nürnberg entstanden – und sie in tiefenräumlich angelegten Überblickslandschaften weiterentwickelt. Im „Tal bei Kalchreuth“ stellte er das Panorama aus mehreren Perspektiven zusammen, wobei ihn besonders die Lichtverteilung interessierte.
In einer Kohlezeichnung (1514) hielt er das bereits vom Tod gezeichnete, ausgezehrte Antlitz seiner 63jährigen Mutter Barbara fest, die noch im gleichen Jahr starb. Dieses Bild ist von erschütterndem Realismus und eine der besten Porträtzeichnungen Dürers – eine wirkliche Ikone des Kupferstichkabinetts. Deren Direktorin Dagmar Korbacher hat sie treffend als die „Mona Lisa von Berlin“ bezeichnet. Von herzlicher, persönlicher Ausstrahlung ist dagegen das ebenfalls mit Kohle gezeichnete „Bildnis eines jungen Mädchens“ (1515), ein kindliches Mädchengesicht mit leicht verhangenem, verträumtem Blick.
Gerade in den Kupferstichen brachte es Dürer zu einer Genialität, die sich in einem für diese Zeit und in diesem Medium ungewöhnlich differenzierten Lichtführung und Oberflächenmodellierung äußert. Der Künstlerbiograph Giorgio Vasari, der überhaupt als erster Kunsthistoriker gilt, hielt es für unmöglich, dass man diesen Stil übertreffen könnte.
Rätselhaft sind viele Arbeiten Dürers, so auch das frühe „Meerwunder“ (um 1498) – ein grotesker Triton hat eine nackte Frau geraubt, die sich bei ihm recht wohlzufühlen scheint, oder „Nemesis (Das große Glück)“ (um 1501), eine geflügelte Aktfigur auf einer Kugel – die Glückgöttin Fortuna und Nemesis, die Schicksalsgöttin, sind hier zum Symbol des unbeständigen Glücks zusammengefügt. Viel mehr als nur eine Kuriosität ist „Das Rhinozeros“ (1515) – es war das erste seiner Art, das Europa seit der Antike lebend erreichte, und Dürers eigenwillige Darstellung hat vielen Künstlern bis ins 18. Jahrhundert als Vorlage für eigene Tierdarstellungen gedient.
„Melencolia I“ (1514) ist der wohl berühmteste und rätselhafteste Kupferstich Dürers. Eine sinnende Frauengestalt mit unzähligen Attributen um sie herum als Allegorie der Melancholie, sie soll – so eine der vielen Deutungen – als Aufforderung zum kreativen Handeln verstanden werden, damit die Welt verständiger und handhabbarer erscheint. Ludwig Justi, der einstige Direktor der Ostberliner Nationalgalerie, sah hier „hingegebenes Denken“ versinnbildlicht. Und als denkendes Sehen sind die unvermittelt ergreifenden Werke dieses Künstlers, der Kunst mit Wissenschaft verband, auch bezeichnet worden.
„Melencolia I“ und die beiden anderen Kupferstiche der Jahre 1513 und 1514, „Ritter, Tod und Teufel“ und „Heiliger Hieronymus im Gehäus“ stellen nach Friedrich Lippmann die „Höhepunkte“ von Dürers Meisterschaft dar. Hieronymus, der Kirchenvater, Gelehrte und Bibelübersetzer, sitzt in einem abgeschlossenen Raum, umgeben von einem Löwen und einem Hund, aber auch von zahlreichen aufschlussreichen Gegenständen, angesichts schwindender Lebenskraft in angestrengter Konzentration bei der Arbeit. „Ritter, Tod und Teufel“ zeigt dagegen das stoische Temperament. Unbeirrt zieht der christliche Ritter trotz der um ihn lauernden Bedrohungen, trotz der Präsenz von Tod und Teufel, seinen Weg. Wenn man ihnen noch das gleich große Hauptblatt „Adam und Eva“ von 1504 hinzurechnet, könnte hier von einem verbindenden Thema – den vier Temperamenten – gesprochen werden. Mit „Adam und Eva“ im Zustand der Erwartung, eine frühe Vorahnung der späteren „Denkbilder“, verkörpern die drei Meisterstiche eine spirituelle Dreiheit moralischer, theologischer und intellektueller Tugenden.
„Adam und Eva“, dem ersten Menschenpaar, kommt hier eine besondere Bedeutung zu: Eva greift nach der verbotenen Frucht, die ihr die vom Baum der Erkenntnis heruntergeglittene Schlange reicht. Adam hält mit seiner rechten Hand noch am Baum des Lebens, einer Esche, fest, doch mit seiner linken Hand will er sehr wohl die verbotene Frucht empfangen. Tier und Mensch sind hier noch friedlich vereint, doch bald wird dieser Friede beendet sein. Der Mensch ist zur Selbstwerdung in die Welt der Konflikte aufgebrochen. Meisterhaft hat Dürer hier Körperlichkeit und Raum im Kupferstich vereint.
Zu den „drei großen Büchern“ rechnete Dürer die Holzschnittfolgen „Apokalypse“ (um 1498), die „Großen Passion“ (um 1496–1511) und „Das Marienleben“ (um 1502–1510), die thematisch eigentlich den Anfang bildet. Während letztere in 18 ganzseitigen Darstellungen ausgewählte Episoden aus dem Leben der Jungfrau Maria bringt, wobei die kleinformatigen Szenen in eine Vielfalt von architektonischen Hintergründen eingebettet sind, gelten die 15 Holzschnitte der „Apokalypse“ der Offenbarung des Johannes, in der die Geschehnisse des Jüngstem Tages beschrieben werden. In jeder „Figura“, wie Dürer seine Bildszenen nannte, sind weltliche und göttliche Szene getrennt, sie werden aber durch einen „phantastischen Realismus“ miteinander im Hell-Dunkel-Effekt verbunden.
Lassen wir uns bei den Dürer-Werken „durch das Inhaltliche nicht vom Sichtbaren ablenken“, empfahl Ludwig Justi 1957: „Mache Dir durch eingehendes Betrachten klar, wie hier so vielerlei Stoffe durch Linien, Schraffuren, Punktreihen verbildlicht sind […]; wie der Bildraum überall von Form erfüllt ist; wie der Lichtgang und das Helldunkel mit höchster Meisterschaft zum Ganzen ineinander gestimmt sind“.
Dürer für Berlin. Eine Spurensuche im Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, Kulturforum, Matthäikirchplatz, bis 27. August. Katalog Hatje Cantz Verlag Berlin, 48,00 Euro.
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