Wenn man die Zeit, in der wir jetzt leben, mit wachen Sinnen erlebt, erlebt man immer und überall ein unschönes, gedankenloses Entweder – Oder. Entweder ist es das Schlechteste, das bekämpft werden muss, oder es ist das Beste, was nicht kritisiert werden darf. Und wer nicht bekämpft oder gar kritisiert, gerät gleich in die Ecke der Allerschlechtesten.
In meinem Musikerleben ist mir dieses Problem aber schon seit meinem Studium bekannt. Georg Knepler, Nestor der Musikwissenschaft in der DDR beendete in seinem Standardwerk „Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts“ das Kapitel Beethoven: „Einen größeren Komponisten als Beethoven hat die Menschheit nicht hervorgebracht.“
Mir kommen immer wieder Zweifel. Wenn Beethoven der Größte ist, können es andere nicht sein. Aber warum nicht Bach, Mozart oder gar Purcell, dem neuartige Ausdruckstiefe, kühne Harmonik und aufwühlende Dramatik bescheinigt wird. Wenn Beethoven auf Platz 1 wäre, wären die Plätze 2, 3, 4 zu belegen. Aber ist die Musikgeschichte eine Olympiade? Kann man eine Sinfonie mit einem Stabhochsprung vergleichen? Ist der rekordverdächtig, der am meisten Noten komponiert hat?
Es sehen alle ein: Nein.
Aber die Sehn-Sucht nach Superlativen ist unausrottbar.
Man liest allenthalben: Höhepunkt, Gipfelwerk, Einmaligkeit, krönender Abschluss, Ausnahmewerk, eindrucksvollstes, großartigstes, kühnstes Werk, gewaltigstes Finale, einmalige komplexe, schillernde Künstlerpersönlichkeit, das Schwierigste, was einem Pianisten abverlangt wird, … solche Beispiele könnten Seiten füllen. Aber warum überhaupt Superlative für Bach, der keine einzige Oper komponiert hat, für Bruckner ohne Kompositionen für Klavier, für Chopin ohne sinfonische Vokalwerke? Aber vielleicht dennoch Superlative für Bach, wenn man an „Kunst der Fuge“ denkt, für Bruckner für die Eigenwilligkeit und Monumentalität seiner Sinfonien, für Chopin für die Entwicklung einer besonderen Art des Klavierspiels, die Maßstäbe setzt.
Wie aber nun weiter?
Ist Beethovens 9. Sinfonie ein Gipfelwerk oder sogar das Gipfelwerk? Oder wurde es durch den Gebrauch, besser Verbrauch, dazu gemacht.
Zu Silvester gehört sie zum Ritual wie Kartoffelsalat mit Würstchen, Pfannkuchen und Bleigießen. Das „Freude-schöner-Götterfunken-Thema“ des 4. Satzes wurde herausgenommen, wurde zum Lied gemacht und gilt als insgeheime Nationalhymne Deutschlands. André Rieu verwandelte es zu eine Art Potpourri, gefällig zum Hören und die Zuhörer sind begeistert, von Beethovens „Gipfelwerk“ so angenehm berieselt zu werden.
Aber auch die Zeit hat ein Wörtchen mitzureden bei der Beurteilung und Platzierung von Komponisten und ihren Werken.
Die Musik Bachs war nach seinem Tode 1750 wenig bekannt, bis Mendelssohn, zwanzigjährig, 1829 die Matthäus-Passion 100 Jahre nach ihrer Uraufführung zu Gehör brachte und so eine Renaissance Bach’scher Musik einleitete.
Gustav Mahlers Werk wurde nach seinem Tode 1911 als eklektizistisch, zerrissen und sentimental gemieden, während des Kunstterrors der Nazizeit ohnehin, aber zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Mahlersinfonien eine Offenbarung.
Und nicht nur die Zeit, auch verschiedene Personenkreise von Musikliebhabern bestimmen mit.
Wenn zum Beispiel Georg Knepler meint, nur mit der Methode des Marxismus Zusammenhänge des Musiklebens aufzeigen zu können, scheint es aus seiner Sicht plausibel, dass Beethoven der Größte ist. Es ist bekannt, dass Beethoven mit den Ideen der Französischen Revolution sympathisierte, dem Adel erhobenen Hauptes trotzte und seine Oper „Fidelio“ dem Freiheitskampf gegen Tyrannei widmete.
In den Kreisen vatikanischer Prominenz hätte Beethoven wohl kaum eine Chance, da könnte man vermuten, Palestrina käme auf Platz1. Und in evangelischen Fachkreisen wäre es sicherlich Bach, vielleicht aber auch Heinrich Schütz.
Und bei einer bestimmten Sorte Musikliebhaber wäre es infolge eines Missverständnisses Mozart. Sie empfinden seine Musik leicht und unverfänglich und fühlen sich mit Erich Kästner solidarisch, der den Mai als den „Mozart im Kalender“ bezeichnete. „Don Giovanni“, „Requiem“ und andere Werke beweisen das Gegenteil.
Würde man einen glühenden Ballettomanen fragen, so käme mit Sicherheit die Antwort: Tschaikowski. Zu seiner Entschuldigung, er kennt nichts anderes.
Hans von Bülow nannte die 32 Klaviersonaten von Beethoven das „Neue Testament“ eines Pianisten und Bach’s „Wohltemperiertes Klavier“ das „Alte Testament“. Diese bonmotartige Bemerkung betont die Wichtigkeit dieser Werke – und in der Tat, kein Pianist kommt um sie herum.
Dies alles ist zusammengetragen, um zu beweisen: es gibt durchaus ernsthafte Hervorhebungen einzelner Komponisten und ihrer Werke, die an die Grenzen einer Platzierung stoßen. Aber oft sind sie an einen Zweck gebunden und könnten dann so auch wieder stimmen. Alle mögen aus ihrer Sicht Recht haben, die verfassungsmäßig gewährleistete Meinungsfreiheit gibt ihnen Schutz und Gelegenheit.
Aber verallgemeinern, einer sei allein „der Größte, den die Menschheit hervorgebracht hat“? Alle sehen ein. Nein. – Im Gegensatz zu Johann Sebastian Bach, der sich über seinen Wert durchaus im Klaren war: „Ich möchte der Händel sein, wenn ich nicht der Bach wäre“.
Aber vielleicht hätte Bach Beethoven sein wollen, wenn er ihn gekannt hätte, wer weiß.
Beethoven der Erste, der Größte?
Schlagwörter: Bach, Beethoven, Gustav Mahler, Maßstäbe, Musikgeschichte, Peter Jarchow