26. Jahrgang | Nummer 16 | 31. Juli 2023

Alltag in der DDR

von Hannes Herbst

Es ist an der Zeit,

die Deutsche Demokratische Republik

als das zu verstehen, was sie ist –
ein Teil der deutschen Geschichte,

jenseits der Mauer.

Katja Hoyer

 

Ungeheuer lebendig wird in diesem Buch das Alltagsleben in der DDR zwischen 1949 und 1990. Katja Hoyer erzählt es vornehmlich anhand mehr oder auch weniger wesentlicher Kapitel und Episoden der DDR-Entwicklung von deren Vorgeschichte seit den 1930er Jahren über Staatsgründung 1949 und Mauerbau 1961 – beides in entscheidendem Maße bedingt durch die Auseinandersetzung mit dem Westen – über Ulbrichts von Moskau und von Genossen aus den eigenen Reihen (darunter Erich Honecker) torpedierten Versuch, dem Land ein effizienteres Wirtschaftssystem zu geben, und den Sommer 1977, als zwischen Kap Arkona und Bad Brambach der Bohnenkaffee knapp wurde, was in der Konsequenz den Aufstieg Vietnams zum heute zweitgrößten Kaffeeproduzenten der Welt initiierte, bis hin zum Mauerfall am 9. November 1989 und dem anschließenden galoppierenden Untergang des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden

Hinzu kommt bei Hoyer eine Fülle individueller Lebensgeschichten – jener von Margot Feist (später Honecker) ebenso wie der von Erika Krüger, die mit 15 Jahren im VEB Möbelwerke „Wilhelm Pieck“ in Anklam zu arbeiten begann und mit ihrer Brigade nicht nur im Inland hoch begehrte Schrankwände produzierte. Dies alles ergibt ein abwechslungsreiches Potpourri, das das gängige westdeutsche Klischee vom grauen Alltag in der DDR ad absurdum führt und das insbesondere für Leser aus dem NSW, die sich dafür interessieren, wie tatsächlich in der DDR gelebt wurde, eine Quelle für Entdeckungen sein dürfte. (NSW war in der DDR der offizielle und besonders unter Ökonomen gebräuchliche Terminus technicus für den Westen: nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet). Denn diesen Lesern könnte es mehrheitlich so ergangen sein wie der Autorin, die die Frage, was sie in ihrer (gesamtdeutschen) Schulzeit über die DDR gelernt habe, mit einem lapidaren „Nichts. 1945 war Schluss.“ beantwortete. Den Besprecher wundert es insofern nicht, dass das Buch in Großbritannien, wo es zuerst erschien und wo die noch in der DDR geborene Autorin heute lebt und arbeitet, für Furore gesorgt hat.

Ein geradezu aggressives Verdikt gegen Hoyers Buch stammt vom Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der im Unterschied zu Hoyer in der DDR länger gelebt hat – er zählte 1989, als die Mauer fiel, 23 Lenze, sie gerade vier. Gegenüber der FAZ erklärte er: Das Buch „taugt nichts, weil es Alltag und Diktatur getrennt voneinander betrachtet. Die Autorin verharmlost nicht das politische System – das kann man ihr nicht vorwerfen –, aber sie entkoppelt es komplett von Gesellschaft und Alltag. Als ob das nichts miteinander zu tun hätte! Von SED über Mauer bis politische Indoktrination fehlt praktisch alles, was ihren Erzählfluss vom kuscheligen Leben stören würde. Dieses Buch ist aus wissenschaftlicher Sicht unmöglich.“ Das muss man aber leider auch über Kowalczuks Kritik sagen – aus wissenschaftlicher Sicht unmöglich. Von SED über Mauer bis politische Indoktrination fehlt praktisch – nichts, wenn man die über 500 Seiten denn gelesen hat. Aber Kowalczuk, der von sich selbst sagt, „ich bin nun mal diktaturgeschädigt“, hat womöglich ein Problem damit, dass eine übergroße Mehrheit der früheren DDR-Bürger sich wohl kaum so attribuieren würde wie er, diktaturgeschädigt. Schlimm genug im Übrigen, dass die DDR trotzdem viel zu viele Geschädigte hinterlassen hat, doch ist damit keineswegs der Ton zu rechtfertigen, den sich Kowalczuk dieser übergroßen Mehrheit gegenüber anmaßt: „Die meisten Menschen neigen dazu, ihre damalige Wahrnehmung als historische Wahrheit in die Gegenwart zu transportieren und von dort aus zurückzublicken: Es war nicht alles schlecht. Das kennen wir auch aus Landser-Erzählungen.“

Zurück zu Hoyers Buch.

Nicht mit den persönlichen Erfahrungen des Besprechers in Übereinklang zu bringen sind die Ausführungen Hoyers über die „‚Kampfgruppen der Arbeiterklasse‘ (KG)“ in der DDR, geschaffen im Gefolge der Unruhen vom 17. Juni 1953 und als militärisches Instrument für den Fall von Wiederholungen – als Milizformation neben der damaligen Kasernierten Volkspolizei, aus der später die NVA wurde. Die KG „standen Arbeiterinnen und Arbeitern offen“, was eine überwiegend freiwillige Mitgliedschaft zumindest suggeriert und zugleich auf eine einzige Bevölkerungsschicht eingrenzt. Hoyer spricht des Weiteren von „Attraktivität der KGs“ durch „das Versprechen einer Rentenerhöhung von 100 Mark für die Mitgliedschaft“. Und im Kontext der Ereignisse vom 13. August 1961 teilt sie mit: „Etwa 5000 KG-Mitglieder beteiligten sich sogar an der Sicherung des Berliner Mauerbaus im Jahr 1961.“ Das klingt so, als hätten die Mitglieder quasi selbständig darüber entschieden.

Der Besprecher war von 1973 bis 1989 selbst einfaches KG-Mitglied, erst als Student, dann als wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Forschungsinstitutes:

  • Der Aufforderung, sich in die KG einzugliedern, nicht zu folgen, war ihm als SED-Mitglied praktisch nicht möglich und hätte angesichts seines staatsnahen Studienganges (Außenpolitik) einen Abbruch desselben zur Folge gehabt. (Diesen Mangel an Freiwilligkeit hat er als seinerzeit überzeugter DDR-Bürger freilich nicht als störend empfunden.)
  • Eine Rentenerhöhung ist ihm zu keiner Zeit in Aussicht gestellt worden.
  • Die KG waren während seiner Mitgliedschaft eine straff militärisch geführte Formation, die zu ihren Einsätzen befohlen wurde – ohne Einspruchsrecht. Das änderte sich erst mit den inneren Unruhen 1989, wo erstmals das Vorgehen gegen Demonstranten trainiert werden sollte. Die kollektive Verweigerung der Teilnahme daran wurde dann schon nicht mehr geahndet …

Fürbass erstaunt war der Rezensent, als ihn Hoyer auf Seite 28 darüber ins Bild setzt, dass Hindenburg Hitler nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 innenpolitisch freie Hand verschaffte, indem er „von den Notstandsbefugnissen Gebrauch [machte], die Artikel 48 des Grundgesetzes dem Bundespräsidenten einräumte“, und zwei Seiten später: Viele deutsche Kommunisten „mussten […] vor dem Naziregime fliehen und emigrierten nach Russland“ (Hervorhebungen – H.H.). Letzteres existierte zwischen dem 30. Dezember 1922 und dem 21. Dezember 1991 bekanntlich nicht.

Bei weiteren deutschen Ausgaben von Hoyers Buch sollten darüber hinaus auch folgende Fehler korrigiert oder Angaben überprüft werden:

  • Bernstein ist kein Kristall (Seite 63).
  • Das Emblem der aufgehenden Sonne prangte auf FDJ-Blusen und Hemden zwar auf dem linken Arm, nicht aber auf der Brust (Seite 111).
  • Am 17. Juni 1953 konnten die Sowjets nicht „in 167 der 217 Bezirke [Hervorhebung – H.H.] der DDR den Ausnahmezustand“ (Seite 176) verhängen; Bezirke hatte die DDR nur zwölf.
  • Beamte gab es in der DDR nicht nur bei den Grenztruppen (Seite 236), der Verkehrspolizei (Seite 241) und bei der Stasi (Seite 505) keine, sondern überhaupt nicht.
  • Das Selbstverständnis des MfS lautete „Schild und Schwert“ der Partei, nicht umgekehrt (Seite 281).
  • Die DDR beschaffte „Kaffee auf dem Weltmarkt […] – zum stolzen Preis von zirka 150 Millionen D-Mark pro Jahr“ (Seite 376) und „insgesamt gaben die Ostdeutschen jährlich für Kaffee 3,3 Millionen Mark aus“ (Seite 377). Wo ist der Rest geblieben?
  • „Männer, die studieren wollten“, wurde in der DDR nicht „zu einer dreijährigen Offizierslaufbahn [Hervorhebung – H.H.]“ (Seite 403) angehalten; es handelte sich um eine Unteroffizierslaufbahn.
  • Am 13. März 1985 konnten sich westliche und östliche Staatsoberhäupter anlässlich des Begräbnisses von KPdSU-Generalsekretär Tschernenko keinesfalls in einem Moskau aufhalten, das „US-Präsident Ronald Reagan exakt 20 Jahre zuvor (Hervorhebung – H.H.) als ‚evil empire‘“ (Seite 448) bezeichnet hatte.

PS: Katja Hoyer war am Ende der DDR erst fünf Jahre alt. So dürfte sie wohl kaum das unnachahmlich kratzige Aroma von Goldbrand am Gaumen verspürt haben, als sie folgendes in die Tastatur tippte: Renate Demuth, die das Kriegsende als Achtjährige erlebt hatte und deren Familie durch einen sowjetischen Offizier davor bewahrt worden war, mit Siegersoldaten schlimme Erfahrungen machen zu müssen, füllte Jahrzehnte später, als französischer Cognac etwa im DDR-Intershop gegen Westwährung zu erwerben war, „leere Cognac-Flaschen der Marke Rémy Martin mit billigem ostdeutschen Goldbrand auf“, und als wäre das nicht Sakrileg genug, heißt es weiter, dass „ihre Partygäste den Unterschied nie bemerkten“.

Arme gen Westen eingemauerte Ossis!

Goldbrand war ein – geschmacklich unter den Braunen dem Blauen Würger unter den Klaren vergleichbarer – DDR-Fusel, ein sogenannter Weinbrandverschnitt, der lediglich zehn Prozent Weindestillat enthalten musste. Der restliche Alkoholgehalt wurde durch Zugabe von Agraralkohol erreicht. Die an echten Weinbrand erinnernde Farbe wurde durch den Zusatz von Zuckercouleur erzielt. So buchstabiert sich – ekelhaft.

Katja Hoyer: Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949 – 1990, Hoffmann und Campe, Hamburg 2023, 576 Seiten, 28,00 Euro.