26. Jahrgang | Nummer 13 | 19. Juni 2023

Vom Blueser zum Punk, Schleimkeim sei Dank

von Thomas Behlert

Ich war ein Blueser, ein Gammler und langhaariger Kunde. Keine Lust auf gar nichts, nur den Blues und alles Artverwandte im Kopf, ständig auf Tour und nie ein Bier ausschlagend. An den Füßen trug ich Jesuslatschen oder dämliche Tramper, die beim kleinsten Regen durchweichten und wegen der dünnen Sohle keinen schnellen Lauf erlaubten. Dann gab es noch die grüne Kutte, die wiederum den Regen abhielt, und eine Jeans, die mir mein Cousin aus dem bösen Westen geschickt hatte. Wer keine westliche Verwandtschaft vorweisen konnte, der ließ sich die blauen Beinumhüllungen von vietnamesischen Mitbürgern nähen. Mit dieser Ausrüstung tourten Männer und Frauen mindestens ab Freitag durch das kleine Land und besuchten auf Dörfern und in kleinen Gemeinden Konzerte von Bands, egal ob man diese kannte oder nicht.

Irgendjemand sagte im Vorfeld immer: „Die sind gut, die fetzen ein.“ In vielen großen Städten durften diese Bluesbands allerdings nicht mehr spielen, denn da waren die Menschenaufläufe zu groß, da bekam die Staatsmacht Angst und der kleingeistige Bürger, der all die vom Nordpol zum Südpol gehenden Schlageraffen liebte, sowieso. Nur weil man auf dem Höhepunkt des Bluesfestes in umliegende Gärten gekotzt und anschließend in der fremden Laube, die der Bürger stolz Datsche nannte, zwischen russischem Nippes einschlief. Das Bier war billig, die staatlichen Kaufhallen hatten immer genügend alkoholische Getränke vorrätig und die Weinflaschen konnte jeder auch in der Dorfkneipe für wenig Geld kaufen.

In den Gemeinden hatten die Kneiper mehr Mumm, sie öffneten die Säle und ließen unter strengen Blicken den Bluesfiedlern freien Lauf. Oft ging es die ganze Nacht, denn die Meute in den Schuppen wollten neben den aufgezwungenen, oft verdammt öden Ostliedern vor allem die Songs hören, die aus einer anderen Galaxie und von Jimi Hendrix, Canned Heat, den Rolling Stones, John Lee Hooker oder Muddy Waters stammten.

Irgendwann, es muss so Anfang der 1980er Jahre gewesen sein, der Blues wurde langweilig und die Musiker dazu kümmerten sich mehr um Geld, Autos und flotte Bienen, nahm mich ein Freund mit in die Bezirksstadt, zu einer illegalen Party. Mit meinen Scheißklamotten fiel ich auf, aber es war den bunten, schmuddelig und lustig angezogenen Punks egal, wer mit ihnen feierte. Hauptsache man hielt die Schnauze und schrie nur zur Musik. Und die war total verschärft. Es raste und torkelte Otze, der irgendwann auch mal Dieter Ehrlich hieß, von der Thüringer Band „Schleimkeim“ über die Bühne und schrie seinen Hass auf den Staat und die Liebe zu gar nichts den wild um sich schlagenden Massen in die zugedröhnte (Spee, Faustan und Vita Cola) Birne. Irgendwie klang alles neu, eindringlich, anarchistisch und die Texte vermittelten den „No Future“-Zustand. Wahnsinn!!! „Faustrecht, Faustrecht, hier regiert das Faustrecht […] Sie machen mit dir was sie wolln, sie machen mit dir was sie wollen. Mit dem Arsch aus der Koje holen, mit dem Arsch […].“ Oder auch: „Wir wollen nicht mehr, wie ihr wollt / Wir wollen unsere Freiheit / Wir sind das Volk, wir sind die Macht / Wir fordern Gerechtigkeit.“

Nach diesem Schlüsselerlebnis verabschiedete ich mich vom Blues, ließ mir die Haare schneiden und zog ein verwegenes T-Shirt mit Löchern, Sicherheitsnadeln und selbst ausgedachten Sprüchen an. Es ging mir gar nicht so um die Sache selbst, sondern vielmehr um die Musik, um die Freiheit, um die verrückten Mädels und um die verschärften Getränke. Letztere klebten an den Klamotten, im Gaumen, an den Haaren, schmeckten unmöglich, waren billig und immer zu haben. Die Runde machten: Blauer Würger, Eierlikör, Kaffee Edel, Pfeffi, Aromatique, Kumpeltot, Halb & Halb und die Absturzgranaten Doppelkorn und Goldbrand. Im Laufe der Zeit sah ich in Abrisshallen, in großen Wohnungen, in Kirchen und heruntergekommenen Dorfkneipen alles was nach Punk klang und immer wieder „Schleimkeim“ aus Stotternheim und Gotha.

Nach zwei Jahren war es mit dem Punk vorbei, ich bekam die Einberufung und musste zur „Fahne“. Hier brachten mir die Punks, die Freunde aus meiner freiesten Zeit, noch einmal Glück. Als „frischer Arsch“ musste ich vor einem Fußballspiel, mit vielen anderen „frischen Ärschen“, den Bahnhof in Erfurt bewachen. Da kamen meine Leute, die zum Spiel wollten, aus dem Bahnhof und auf mich zu. Was war das für ein Jauchzen und Brüllen: „Hey, Mann, wie machst du dich zum Affen?“ und: „Bewachst du das Schweinsystem?“, waren noch harmlose Begrüßungsformeln. Ich freute mich riesig und ließ zu, dass die Jungs und Mädels meine militärische Schirmmütze benutzten. Sofort lief mein Zugführer auf mich zu und rief voll Angst: „Anwärte,r benutzen sie ihren Gummiknüppel!“ Darauf ich: „Ne, ne, das sind meine Kumpels.“ Seit dieser Zeit hatte ich zumeist Innendienst und brauchte nicht mehr zu bescheuerten Einsätzen, sondern wurde im „Hinterland“ (Küche, Klo und Stube) verbraten. Egal, ich hatte meine Ruhe und immer lecker Schnaps.

Danach verlor ich den Punk, dieses eigenartige Gebilde ohne Zukunft, aus den Augen, konzentrierte mich auf Studium, Arbeit, Wende und Familie. Der Kapitalist tritt einem so richtig in den Arsch, denn man soll arbeiten und für ihn einen Wahnsinnsumsatz erwirtschaften.

Von Otze hörten die letzten Punks immer mal wieder etwas. Es erschienen erste offizielle Aufnahmen („Abfallprodukte der Gesellschaft“, „Mach dich doch selbst kaputt“, „Drecksau“, „Geldschein“). Otze hing immer mehr an der Droge und erschlug schließlich seinen Alten, der nach der Einweisung seines Sohnes in die geschlossene Anstalt dessen Sachen auf den Müll geschmissen hatte. Zuvor war bereits die Mutter von Otze gestorben, die ihm bisher Halt gegeben und für alle Besucher riesige Thüringer Klöße gekocht hatte. Gestorben ist der einzige wahre Punk des Ostens elendig in einer Psychiatrie.

Nun hat sich der Ventil-Verlag besonnen und veröffentlicht die besten Texte von „Schleimkeim“ als Comic-Buch. Nach „Ton Steine Scherben“, „Tocotronic“ und „Fehlfarben“ gibt es nun also die gezeichnete Erinnerung an die Band aus dem Osten, die nichts mit dem Staat am Hut hatte. Acht international bekannte Comickünstler griffen sich zum Beispiel „Bullenterror“ heraus, „Satan“, das lustige Liedchen „Mein Garten“ und den echten Punkknaller, das ironische „Bundesrepublik“. Es entstanden Comics, die nicht alltäglich sind, das Anarchistische aus den Songs herausgreifen und doch nahe an Otzes Texten sind. Sehr viel eigener zeichnerischer Willen ist zu bewundern, auch mal hässliche Fratzen (siehe „Der Diktator“), und immer wieder Otze unter Punks, in Kneipen oder im VP-Knast.

Als Zwischentexte gibt es vom Herausgeber Frank Willmann kurze Einblicke in Dieter „Otze“ Ehrlichs Lebenslauf, in die Songtexte, eine Aufklärung, wie es zur ersten Punk-Platte der DDR in der BRD kam und wie alles mit dem charismatischen Frontmann endete. Auch kommen einige Freunde und Musiker zu Wort, die den Hauptakteur erlebten, mit ihm tranken, gegen Nazis kämpften und musizierten. Schließlich stehen noch einige Anmerkungen von den Comiczeichnern im Buch: Warum sie gerade diesen Song illustrierten und wie sie zu „Schleimkeim“ stehen.

 

Frank Willmann (Hrsg.), „Betreten auf eigene Gefahr“, Ventil Verlag, Mainz 2023, 128 Seiten, 25,00 Euro.