26. Jahrgang | Nummer 13 | 19. Juni 2023

Ukrainekrieg – Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht

von Stephan Giering

 „Es gibt keine unlösbaren Konflikte.“

 

Juan Manuel Santos*

 

Wie sollte es jetzt in Europa weitergehen, damit die Waffen im Osten des Kontinents schweigen und der blutige Konflikt in der Ukraine sich nicht auf die Europäische Union ausdehnt – trotz der vielen Toten, Verwundeten und jeder Menge Hass auf allen Seiten des blutigen Konflikts? Das Buch „Ukrainekrieg – Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“ möchte eine Hilfestellung beim Ringen um konstruktive Antworten auf diese Fragestellung sein. Es wurde am 06. Juni in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. Die beiden Herausgeber sind die Wissenschaftler Sandra Kostner, Expertin an der pädagogischen Hochschule von Schwäbisch-Gmünd, und Stefan Luft, Experte für Regierungslehre und Politikfeldanalyse an der Universität Bremen. Sie gehören darüber hinaus neben zehn weiteren hochkarätigen Experten aus verschiedenen Wissenschaftsgebieten und der Politik zum Autorenkollegium.

Zum Inhalt des Buchs. Es gliedert sich in drei Teile.

Im ersten Teil geht es um die Hintergründe des Krieges. Einleitend schreibt dazu Sandra Kostner über verspielte historische Chancen. Diese hätten sich konkret in der Zeit des friedlichen Umbruchs in der sowjetischen Hemisphäre Ost- und Südostmitteleuropas in den 1980er Jahren ergeben. Anfang der 1990er Jahre hätte es ein reales politisches Zeitfenster zur Realisierung der Vorschläge des sowjetischen Präsidenten (und Hoffnungsträgers von Millionen Deutschen in Ost und West – S.G.) auf ein gemeinsames Haus Europa gegeben. Demnach wäre Russland ein integraler Bestandteil der europäischen Staatenfamilie eines Europas von Lissabon bis Wladiwostok geworden. Kostner zeigt auf, dass schon kurz nach der friedlichen Wende die Interessen der USA längst nicht immer deckungsgleich mit den Interessen Europas gewesen seien. Bekanntlich wurde nichts aus diesem Traum von einem gemeinsamen europäischen Haus. Neben weiteren lesenswerten Beiträgen von Jürgen Wendler, Günther Auth und David Teurtrie warnt abschließend der CDU-Politiker, MdB a.D. und frühere Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung Willy Wimmer vor einer deutschen Politik ausschließlich im Fahrwasser US-amerikanischer Interessen. Wimmer erinnert daran, dass der erste gesamtdeutsche und international hoch geachtete Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) sein Amt niederlegte, weil er eine rein an den Interessen der USA orientierte deutsche Außenpolitik nicht mittragen wollte. Ebenso hätte der erste gesamtdeutsche CDU-Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg seinem Gewissen nach gehandelt. Infolgedessen sei es zu einer gesamtdeutschen Außenpolitik gekommen, die vitale Sicherheitsinteressen Russlands negiert habe. Doch selbst der erste gesamtdeutsche Bundeskanzler Helmut Kohl habe dies nicht gewollt. Er hätte sich nach Besuchen in Washington oft in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion über diese US-bestimmte Politik beklagt. Wimmer wörtlich: „Er (Bundeskanzler Kohl – S.G.) drückte immer wieder sein Unverständnis darüber aus, dass man in Washington keine Skrupel hatte, Kapital daraus zu schlagen, dass die USA den Kalten Krieg gegen die Sowjetunion gewonnen hat. Kohl war der Ansicht, so dürfe mit einem großen Volk – den Russen – nicht umgegangen werden, weil man ansonsten Gefahr laufe, in die nächste antagonistische Situation zu geraten. Er sollte damit Recht behalten. Dass er die deutsche Politik dennoch an den US-Interessen ausrichtete, ist Ausdruck politischer Ohnmacht gegenüber Washington.“ Wimmer warnt auch vor dem weiterhin schwelenden Pulverfass Balkan, wo sich geopolitische Interessen des Westens und Russlands kreuzten. Für diese akute Gefahr sei die damalige „Ausklammerung Serbiens aus der europäischen Entwicklung“ mitursächlich.

Der zweite Teil des Buchs trägt den Titel „Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg“. Wesentlich wird darin der Frage nachgegangen, inwieweit die vom Westen gegen Russland verhängten wirtschaftlichen Sanktionen – vor allem im Gas- und Erdöl-Bereich – ihre intendierten Ziele erreicht hätten. Eine abschließende, seriöse Bewertung dieser Frage lässt sich derzeit noch nicht treffen. So führt Roland Springer, der unter anderem jahrelang an exponierter Stelle beim Personalvorstand der Mercedes Benz AG tätig war, hierzu aus: „So wenig, wie sich die Ukraine dem russischen Aggressor gegenüber militärisch einfach geschlagen gibt und heftige Gegenwehr leistet, gibt sich Russland seinerseits dem westlichen Aggressor wirtschaftlich geschlagen und leistet seinerseits deutliche Gegenwehr.“ Springer weiter: „Die lachenden Dritten in diesem Wettlauf um die Lieferung eines sanktionsbedingt stark verknappten Wirtschaftsguts sind die OPEC-Staaten sowie rohstoffreiche Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika.“ Um diese Länder als Handelspartner zu erhalten, gelte für die deutsche Außenpolitik bemerkenswerterweise keine den UN- Menschenrechten verpflichtete werteorientierte Außenpolitik, sondern das einfache Motto aus der Dreigroschenoper Brechts: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“

Weitere interessante interdisziplinäre Beiträge für diesen Teil des Buchs steuern Wolfgang Streeck, Jaques Sapir, Alexander Nitzberg, Sabine Schiffer und Mitherausgeber Stefan Luft bei.

Der dritte Teil des Buchs beschäftigt sich mit Ausblicken und Einsichten. „Frieden kann es nur mit Russland und nicht gegen Russland geben“, meint darin Klaus von Dohnanyi, Staatsminister im Auswärtigen Amt, Bundeswissenschaftsminister und Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg a.D. Dohnanyi lässt in seine Expertise sowohl historische und geopolitische als auch sicherheitsstrategische Erwägungen aus deutscher und europäischer Perspektive einfließen. So sei zum Beispiel die westdeutsche Russland-Politik vor 1990 nie an dem Grundsatz Wandel durch Handel, sondern an Wandel durch Annäherung orientiert gewesen. Diese Auffassung von Politik sei weder damals noch heute naiv. Dohnanyi führt aus: „Wie immer die Beziehungen zu einem großen und potenziell gefährlichen Nachbarn sein mögen: Es gibt zum Versuch der Befriedung, zum Verständnis auch seiner Interessen keine Alternative.“ – Abschließend zieht Stefan Luft sein Fazit, weshalb ein Ende des Konflikts mit Russland im ureigenen deutschen Interesse liege: In der Ukraine werde ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA, der NATO und der EU auf der einen und Russland auf der anderen Seite ausgetragen. Deutschland sei politisch schon jetzt eine Kriegspartei. Als eines der wichtigsten westlichen Logistikdrehkreuze für die Kriegführung sei damit für Deutschland das ernste Risiko verbunden, dass es zu einer Ausweitung und Eskalation des Konflikts auf Drittstaaten kommen könnte. Gemeint ist im Klartext eine Ausweitung der tödlichen Kampfzone auf deutsches Gebiet. Luft dazu weiter: „Externe Unterstützung verlängert auch oft die Kriegsdauer und erhöht sowohl die Todesrate als auch die Wahrscheinlichkeit, dass ein Konflikt in der Zukunft von neuem entflammt.“ Doch auch die „Heimatfront“ werde zum propagandistischen, politischen und juristischen „Kriegsgebiet“. Als Beispiel zieht Luft die umstrittene Verschärfung des Volksverhetzungsparagrafen 130 des StGB heran. Ursprünglich als Tatbestand für das Leugnen deutscher Verbrechen wie dem Holocaust konzipiert, würden nun mutmaßliche russische Kriegsverbrechen im aktuellen Ukrainekonflikt darunter fallen, sollte an deren Vorliegen jemand in Deutschland öffentlich Zweifel äußern. Luft verweist auf die Gefahren, die sich fortan für das Grundrecht der Meinungsfreiheit ergeben. Er bezieht sich hier auf die Kritik des renommierten deutschen Strafrechtsexperten und Mitglieds des Verfassungsrechtsausschusses der deutschen Bundesrechtsanwaltskammer Gerhard Strate. Diesem zufolge führe die Tatbestandsänderung zu einer „Gesinnungsjustiz“ und zur Kriminalisierung politischer Gegner. Wichtig sind nicht zuletzt Lufts Ausführungen zu den ökologischen Folgen des Ukrainekrieges für ganz Europa. Deutschland verfehle schon jetzt fortdauernd seine selbstgesteckten Klimaziele. Jeder „moderne Krieg“ sei jedoch ein „Klimakiller“.

Ein wichtiges Buch für Europa, das zur Hand zu nehmen, sich lohnt.

 

* – Santos ist ehemaliger Präsident Kolumbiens und Friedensnobelpreisträger für das Abkommen seiner Regierung mit den FARC-Rebellen zur Beendigung des dortigen Bürgerkrieges nach 52 Jahren. Seine Aussage traf er in einem Interview mit Radio Vatikan Anfang Juni 2023.

 

Sandra Kostner / Stefan Luft: Ukrainekrieg – Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht, Westend, Frankfurt am Main 2023, 352 Seiten, 24,00 Euro.