26. Jahrgang | Nummer 12 | 5. Juni 2023

Stationen eines „staatlich anerkannten Widerstandskämpfers“

von Peter Jarchow

Oktober 1968. Stadtgericht Berlin. Prozess im Zusammenhang mit den Ereignissen des Prager Frühlings. Der Richter: „Angeklagter Jarchow, Sie werden wegen Staatshetze und Staatsverleumdung zu einer Gefängnisstrafe von neun Monaten verurteilt, ausgesetzt auf Bewährung von 1 ½ Jahren.“

Ich war befangen und wusste keine Antwort. Der Pflichtverteidiger flüsterte mir zu: „Ich nehme die Strafe an.“ Verlegen und hilflos meine Antwort: „Ich auch.“ Allgemeines Gelächter, vielleicht das einzige Mal in einem politischen Prozess, wer weiß. Ich war also offiziell ein Staatsfeind. Aber in meiner beruflichen Entwicklung habe ich keinen Schaden genommen.

Gewiss, alle NSW-Einladungen  wurden mir bis 1988 verwehrt. Aber das betraf ja nicht nur mich. Gewiss gab es hier und da entwürdigende Beleidigungen, aber auch da war ich nicht der Einzige. Ich konnte also meine Arbeit als Pianist an der Palucca-Schule fortsetzen, hauptsächlich bei Palucca selbst, konnte mit der Tanzpädagogin Eva Winkler einen Forschungsauftrag der Akademie der Künste über eine Dokumentation des Neuen Künstlerischen Tanzes beenden, allerdings mit einem negativen Resultat, die Arbeit war zuerst in den Schubladen und dann aus den Schubladen verschwunden, aber wohin? Wer weiß das schon.

Bei den internationalen Sommerkursen in der Palucca-Schule war ich als Pianist für die Kurse hochkarätiger westlicher Dozenten eingeteilt: Joan Turner-Jara und Patricio Bunster (beide Chile), Micha Bergese (England), Annemarie Parekh (Schweiz), Carolyn Brown (USA), Jean Cébron (Frankreich). Ich konnte an der Hochschule für Musik „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig nach eigenem Ermessen die Fächer Improvisation und Ballettkorrepetition neu einführen und ausbauen. Ebenso wurde ich mit der Aufgabe betraut, den Anteil musikalischer Fächer in der Choreographieausbildung der Theaterhochschule „Hans Otto“ Leipzig zu entwerfen und zu unterrichten. Zeitgleich ergab sich eine intensive Zusammenarbeit mit dem Ballett des Dresdner Theaters, pianistische Begleitung von Choreographien wie „Der Grüne Tisch“, „Gesichte“, einem Kammertanzabend von Arila Siegert, und mit „Improvisationen“. Außerdem war ich im Auftrag des Ministeriums für Kultur an Lehrplänen für die Musikhochschulen in den Fächern Improvisation und Korrepetition beteiligt und konnte 1986 die Dissertation „Spezifik der Ballettmusik“ an der Karl-Marx-Universität Leipzig erfolgreich verteidigen.

Dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer lief eine durch reichlichen Verzehr von Wein angeheizte Diskussion aus dem Ruder. Es ging um Rente Ost und West. Wessi: „Ihr hattet ja auch nicht so viel eingezahlt, deshalb ist die Ostrente niedriger.“ Ossi: „Aber jetzt als Bürger der BRD?“ Wessi: „Ach so, du willst also nur unser Geld:“ Ossi: „???!!!“ Krach – Bum – Aus.

Erst über 30 Jahre nach dem Beitritt kam die „Siegesmeldung“: Löhne und Renten seien in Ost und West angeglichen. Es stimmt einfach nicht. Meine Rente (C4-Professur), knapp unter 2000 Euro, beträgt etwa die Hälfte der Altersversorgung eines meiner Professorenkollegen aus der BRD.

Im Zusammenhang mit Gesprächen über den Stellenwert der Improvisation an den Musikhochschulen wollte ich Erfahrungen aus der DDR einbringen. Mir wurde der Satz hinterbracht, „Der Jarchow soll uns endlich mit seiner Ost-Scheiße in Ruhe lassen.“

Die Palucca Schule wurde 1993 ein den Hochschulen gleichgestelltes Ausbildungsinstitut. Der Kommentar eines westdeutschen Tanz-Funktionärs: „eine Verzweiflungstat des Kultusministers, Professorentitel werden verschleudert“.

Als Direktor der Palucca-Schule lud ich 1996 den Leiter einer renommierten West-Ballettschule nach Dresden ein. Die Ablehnung: „In den Osten fahre ich nicht.“

Zweimal – in der DDR und in der BRD – wurde ich gerügt, ich solle mich nicht lustig machen.

In der DDR: Bei Demonstrationen zum 1. Mai marschierten die Betriebe an der Regierungstribüne vorbei. „Wir begrüßen das Kollektiv der Staatsoper Berlin, es lebe Hoch – Hoch – Hoch“. Ich schlug vor: „Es lebe die Hoch-Hoch-Hochschule für Musik.“ Es folgte eine Vorladung beim Rektor.

In der BRD: Es wurde erwogen, alle DDR-Dissertationen zu überprüfen, ob sie auch rechtens wären. Ich schlug vor, Peter Schreier zu überprüfen, ob er auch rechtens singen könne Es folgte eine Vorladung beim Rektor.

Der offizielle Lehrplan „Improvisation“ des Ministeriums für Kultur der DDR wurde nach 1989 aus den Bibliotheken der Musikhochschulen der DDR entfernt und wird lediglich im Bundesarchiv unter „Archiv der Parteien und Massenorganisationen“ aufbewahrt.

Aber all das ist nun vergangen. Ist es aber auch Vergangenheit?

Wie geschah es, dass mein berufliches Leben in der DDR mich befähigt hat, mühelos meinen Beruf in den alten Ländern, für mich waren es die neuen Länder, weiterführen zu können?

Das Hauptfach Klavier hatte ich bei Prof. Heinz Zimbehl, einem Schüler von Claudio Arrau, belegt Ich erwarb umfassendes Musikverständnis, profunde Klavierspieltechnik, ebenso nachhaltiges Interesse für Literatur, bildende Kunst und für philosophische Fragen zu Politik und Weltgeschehen. Er forderte und förderte eine kritische Sicht zum Staate DDR.

Jean Weidt, der „Rote Tänzer“, lehrte mich die Ernsthaftigkeit und Unerbittlichkeit der Kunst, dass Kunst Kampf sei, für eine bessere Welt, manchmal auch gegen sich selbst.

Palucca sei gesondert erwähnt. Eigentlich war ich ihr musikalischer Mitarbeiter, aber ich fühlte mich wie ihr Schüler. Ich begriff das Wesen ihrer Kunst, ihr Verhältnis zur Musik und zur bildenden Kunst, ich erfuhr Geheimnisse des Bauhauses, die in keinem Buch zu lesen wären.

Neben meiner Ausbildung waren es berufliche Erfahrungen, die mein Wissen und Können und meinen Standpunkt nachhaltig geprägt haben. An erster Stelle die Palucca-Schule, die ein Ausnahmeinstitut – eine Insel – in der sozialistischen Erziehungswelt war. Das internationale Flair der Sommerkurse, immer wieder die Kunst der Gegenwart aus der Vergangenheit begreifen und der Zauber der Pädagogik dieser Schule haben mich bestärkt.

Knallharte Erfahrungen konnte ich in meiner Tätigkeit beim Ballett Dresden sammeln. Die Tatsache, dass um 19.00 Uhr der Vorhang aufgeht, verlangt Verlässlichkeit, stets abrufbares Können und ein Höchstmaß an Disziplin.

Dieses beides, Ausbildung und Erfahrung, ist Grundlage meiner Pädagogik und meiner Lebenshaltung und es war mir dadurch möglich, ohne Mühe mich in westdeutsche Hochschulen und Gremien einzubringen. Und beides habe ich als ein „staatlich anerkannter Widerstandskämpfer“ in der DDR erworben.

Vielleicht war doch nicht alles nur schlecht in der DDR?

Die immer wieder geforderte Dankbarkeit der DDR-Bürger, dem BRD-Staat gegenüber oder gar dem Bürger der BRD verweigere ich. In einem Staat zu leben, ist ein Recht und hat Pflichten, ist aber kein Gnadengeschenk. Wenn Dankbarkeit, dann den DDR-Demonstranten und einigen führenden Mitbürgern.

Ein Teil der Bürger wird aufgrund ihres Alters es als normal empfinden, in einem Deutschland zu leben. Unser Enkelkind fragt, wenn es etwas über die DDR wissen will: „Opa, erzähl mir etwas aus der Kaiserzeit.“ Natürlich kennt er den Unterschied, aber eines vereint für ihn Kaiserzeit und DDR: Es ist beides Vergangenheit.

Und die über 80-Jährigen nehmen ihre Probleme mit dem Schicksal ihres Vaterlandes – wie auch immer – mit ins Grab.

Die Übrigen müssen lernen: es ist nun mal so. Das heißt nicht, die Konflikte zu verdrängen. Im Gegenteil, wir müssen deutlich erkennen, was denn nun mal so ist. Das gilt für die an Geschichte Interessierten im gleichen Maße, wie für die an der Geschichte Uninteressierten. Nur so können wir DDRlinge im Begreifen von Schmach und Glück ein Leben in Deutschland genießen. Wie das gelingen wird, wer weiß.

Dass ich den Wechsel Ost-West geschafft habe, hängt wahrscheinlich an Vielem, vielleicht war es eine Art Bauernschläue, mit den Widrigkeiten der Zeit umzugehen, vielleicht auch ein bisschen Glück. Sicherlich auch dem Tatbestand geschuldet, dass die Arbeitsfelder, die ich mir in der DDR erobert hatte, von den BRD-Kollegen noch nicht so beackert worden sind.

Peter Hoch (Dozent an der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen): „Nach der Wiedervereinigung war zu entdecken, dass in der DDR die Improvisation bereits einen Stellenwert besitzt, während sie im Westen gerade erst erkannt und aufgegriffen wird. Die Arbeit, die Herr Dr. Jarchow an der Musikhochschule Leipzig leistet, könnte in dieser Hinsicht beispielhaft für Ausbildungsinstitute in den alten Bundesländern sein.“

Auf keinen Fall ist es so, dass ich es mit zielgerichteter Planung, messerscharfer Logik und überragendem Intellekt geschafft habe. Nein, so war es nicht.

In dem Roman „Der Maulkorb“ von Heinrich Spoerl hat Tante Mina, die drei Mal verheiratet war und die Klugheit von drei Männern in sich aufgesogen hat, beim Auftürmen der Probleme gesagt: „Man muss nicht gleich entweder – oder. Wer schlau ist, segelt zwischendurch.“ Und das tat ich.

Prof. Dr. Peter Jarchow ist Pianist und Hochschullehrer. Er lebt in Berlin.