26. Jahrgang | Nummer 13 | 19. Juni 2023

Russlands Fluch

von Stephan Wohanka

Wir hatten zu Hause ein „großes“ Buch mit Zeichnungen von Fritz Koch-Gotha. Als Kind schaute ich es mir häufig an. Eine seiner Presse-Zeichnungen nahm mich immer in Beschlag. Zu sehen waren darauf Soldaten in langen Mänteln, Pelzmützen, die Gewehre mit aufgepflanzten schräg nach oben gerichteten Bajonetten im Anschlag. Jeder dritte oder vierte war ein Trommler oder Pfeifer, einige stürzten wohl auch schon … Wie ich mich erinnere, lautet die Bildunterschrift: „Sibirische Regimenter ziehen mit klingendem Spiel unter dem Trommelfeuer der Japaner in die Schlacht bei Mukden“.

Dieses Bild kam mir in den Sinn, als die Schlacht um Bachmut vom Chef der Wagner-Söldner Prigoschin „Fleischwolf“ genannt wurde, durch den seine Leute gedreht würden. In den ersten Tagen der russischen Aggression gegen die Ukraine hatte es aus Moskau noch geheißen, es gäbe keine eigenen Verluste. Ein Mitstreiter Nawalnys, Leonid Wolkow, prangerte das an: Das sei „nicht nur eine Lüge – sondern Verrat, Verschmähung von Menschenleben. Und wenn Soldaten sterben? Dann haben sie nie existiert. Eine Minute vor dem Tod werden sie aus dem Militärdienst ausgeschlossen.“

„Verschmähung von Menschenleben“ ist eine starke Behauptung. Sie stünde für Russlands rücksichtslosen Einsatz seiner Soldaten in diesem Krieg.

Doch das ist die Fortsetzung einer unseligen Tradition. Man erinnere sich: Nach dem Großen Vaterländischen Krieg, dem gegen die Hitlerbarbarei, wurden das gnaden- und teils auch militärisch sinnlose Verheizen der eigenen Leute an der Front und die dadurch bedingten exorbitanten Verluste an Gefallenen, Verwundeten und Gefangenen sowjetischerseits jahrzehntelang geheim gehalten. Auch ein international gerühmter Schriftsteller wie Daniil Granin, Kriegsteilnehmer mit niedrigem Offiziersdienstgrad, hat erst in seinem 2011 erschienen Spätwerk „Mein Leutnant“ das Tabu gebrochen: „Selbst als wir gegen Ende des Krieges gelernt hatten, wie man Krieg führt, fuhren wir fort, unsere Leute ohne Ende zu verheizen. […] Interessant wäre, wie es um den Ruf einiger ruhmreicher Marschälle stehen würde, wenn man ihnen die Gefallenen angerechnet hätte.“ Und Granin fragt: „Warum sind sie so mit uns umgegangen?“ Seine erschütternde Antwort: „Weil es von uns immer genug gegeben hat. Morgen schicken sie Sibirier, dann Uraler, dann Kasachen. Nicht mit Menschen muss man sparsam umgehen, sondern mit Munition.“

„Verschmähung von Menschenleben“ spricht darüber hinaus für einen generell inhumanen Umgang mit Menschen. Wenn dem so ist, wo liegen mögliche Ursachen?

Wie Quellen der Financial Times zutrugen, kam es am 24. Februar 2022 zu folgender Szene: Russische Oligarchen, von Putin einbestellt, trafen auf Außenminister Lawrow. Auf die Frage, wie die Invasion in die Ukraine geplant worden sei, soll dieser geantwortet haben: Putin habe „drei enge Vertraute: Iwan den Schrecklichen. Peter den Großen. Und Katharina die Große“. Warum gerade diese drei? Wofür stehen sie in der russischen Geschichte?

1546 machte sich der 16-jährige Iwan zum самодержец (Selbstherrscher) Russlands und lenkte bald seine Blicke nach Süden und Osten – seine Truppen zerschlugen die tatarischen Khanate Kasan, Astrachan und Sibir. Später richteten sich seine Eroberungszüge auf die Unterwerfung Sibiriens, dem „schlafenden Land“ jenseits des Urals. Eine Öffnung des Landes nach Westen misslang. Diese brachte dann Peter zustande, der im Großen Nordischen Krieg 1700 bis 1721 Schweden besiegte und damit das Zarenreich als europäische Macht und die russische Vorherrschaft im Ostseeraum etablierte. Katharina (die Deutsche Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst) wiederum annektierte in zwei Türkenkriegen die Westukraine, die Krim und sicherte Russlands Zugang zum Schwarzen Meer. Mit den drei Teilungen Polens vergrößerte sie das Land im Westen um eine halbe Million Quadratkilometer. So hinterließ sie ein großmächtiges, multiethnisches Reich, das bis Alaska reichte.

Zweifellos – alle drei folgten einer imperialen Idee, einer expansiven Logik, die die Eroberung immer neuer Territorien quasi um der Eroberung willen betrieb. 1865 notierte der damalige Innenminister Piotr Walujew in sein Tagebuch: „General Tschernjajew hat Taschkent genommen, keiner weiß, wozu und warum.“ Der hellsichtige Sergej Witte, kurzzeitig Ministerpräsident unter dem letzten Zaren Nikolaus II. schrieb: „Uns reichen die Polen, Finnen, Deutschen, Letten, Georgier, Armenier, Tataren usw. nicht aus, wir wollen uns auch noch mit Mongolen, Chinesen; Koreanern vereinen. […] Gott erbarme Dich unser.“ Der Historiker Jörg Baberowski spricht dann in unseren Tagen von „dreierlei Fluch“, der auf Russland laste: „Es gibt den Fluch des Imperiums, den Fluch der Geografie und den Fluch der schwachen Staatlichkeit – bis heute“. Der Fluch der Geografie habe gravierende Folgen für die schwache Staatlichkeit: „Welche Optionen hatten die Herrscher in der Vergangenheit, um diese riesigen Räume zusammenzuhalten? Kooperation mit lokalen Eliten, aber eben auch Furcht und Schrecken.“

Zu „Furcht und Schrecken“ kam es schon unter Iwan: Zwischen 1563 und 1575 ordnete er mehrere Massenexekutionen an. Er bediente sich dabei der so genannten Opritschniki; sie dienten sowohl als Leibwächter als auch als Spitzel, Häscher sowie Henker und unterstanden dem Zaren unmittelbar. Ihre Zahl wuchs bald auf 15.000 an; sie verbreiteten Angst und Terror im ganzen Land, eine „Feuersbrunst der Grausamkeit“, wie ein Zeitgenosse schrieb.

1839 bereiste der Franzose Astolphe de Custine Russland. Er wollte wohl wie Tocquevilles, der die USA bereiste und in diesen sowie Russland die zukünftigen Großmächte sah, das Zarenreich analysieren. In seinem Bericht verwies er die westlichen Vorstellungen von der Fortschrittsorientierung Russlands seit Peter ins Reich der Mythen. Stattdessen entwarf er ein düsteres Russlandbild und prangerte sowohl die allgemeine Rückständigkeit als auch die barbarischen Umgangsformen an: „Peter I. und Katharina II. haben der Welt eine große und nützliche Lehre gegeben, welche Rußland bezahlen mußte; sie zeigten uns, daß der Despotismus nie mehr zu fürchten ist, als wenn er Gutes schaffen will, denn dann glaubt er seine empörendsten Handlungen durch seine Absichten rechtfertigen zu können, und das Schlechte, das sich als Heilmittel ausgibt, hat keine Grenzen mehr.“ Despotie, Menschenverachtung und Bürokratie Bislang prägten die russischen Zustände. Selbst Einheimische bezichtigten Peter, „eine blutende Wunde in die russische Gesellschaft geschlagen“ zu haben. So der Philosoph Alexander Herzen, kurzzeitig für eine Zarenkritik verbannt.

1987 begann Gert Gawellek sein Studium an der Militärakademie „M. W. Frunse“ in Moskau. Gemeinsam mit anderen NVA-Offizieren und Hunderten Soldaten der Roten Armee. Wer an einer sowjetischen Militärakademie studieren wollte, musste „klassenbewusst“ sein; Gawellek war es. Da sei zum Beispiel die alltägliche Gewalt gewesen, die er ignoriert habe, die ihm heute aber in einem anderen Licht erscheine: „Ich war immer wieder überrascht, mit welcher Härte, Rücksichtslosigkeit und Brutalität die sich geprügelt und wie schnell die dabei Messer gezückt haben“, sagt er. Er habe damals aber nicht weiter darüber nachgedacht. Inzwischen wisse er, dass Brutalität ein dunkler Teil der „russischen Seele“ sei. Und noch etwas: Man dürfe ihnen, russischen Militärs, nicht trauen, sie lögen wie gedruckt. Dann die Rücksichtslosigkeit, mit der sie ihr Personal verheizten, die Menschenverachtung im Umgang mit den eigenen Soldaten. Das trifft sich mit dem Urteil des Militärhistorikers und vormaligen Drei-Sterne-Generals der sowjetischen Armee Dimitri Wolkogonow: „Menschen hatten für ihn (Stalin – St.W.) noch nie gezählt. Noch nie!“

Putin bezeichnete 2005 den Zerfall der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Der Satz sagt wenig über die Vergangenheit aus, mehr über die politischen Ziele Putins: Er hat sich die imperiale Logik zu eigen gemacht und sieht sich wohl tatsächlich in der Nachfolge Iwans, Peters und Katharinas. In jedweder Hinsicht …

Die schockierende Gewalt, die die russische Armee über die Ukrainer gebracht hat, ist deshalb keine Ausnahme, sondern sie kommt aus dem tiefsten Innern eines in Russland immer noch täglich praktizierten Systems der Grausamkeit, schreibt der russische Journalist und Politologe Sergei Medwedew: „Man muss nicht Fjodor Dostojewski, Juri Mamlejew oder Wladimir Sorokin sein, um die dunkelsten Winkel der russischen Seele zu erkunden. Man braucht sich nur die Chronik der Polizeigewalt anzusehen, die Folter auf den Polizeirevieren und in den Strafkolonien, die Verbrechen der Armee, um zu verstehen, dass die Ereignisse in Butscha, Irpin und in den ganzen anderen von den Russen okkupierten Städten und Dörfern weder Exzess noch Pathologie sind. Sie sind vielmehr ein Teil der Norm, Routinepraktiken der russischen Gewaltapparate.“

Mit Butscha, Irpin, Mariupol drang nach draußen, was zu Hause immer schon immer der Fall war. Woher kommt so viel Zerstörerisches in diesen Menschen? Wer waren diese Soldaten? Sie kamen nicht aus Moskau, aus Sankt Petersburg oder Nowosibirsk – sie kamen überwiegend aus depravierten Regionen im Fernen Osten oder Zentralrussland. Also bezeichnenderweise aus eher vernachlässigten, ärmeren Gegenden des Imperiums; was kein Zufall sein dürfte. Die Namen der Militäreinheiten sind bekannt.

Russlands Fluch: Bisher ein Land zu sein, dass aggressiv nach außen ist und repressiv im Inneren. Noch deutet nichts auf eine Änderung hin. Doch das riesige Land hat Potentiale für mehr und Anderes; die Hoffnung besteht auch in diesem Falle darin, dass dies zum Tragen kommen möge, ohne dass Gewissheit darüber bestünde.