[…] ich würde den Führern der Sowjetunion und ihrem Volk sagen, dass wir, wenn eines unserer Länder völlig sicher sein soll, eine viel bessere Waffe als die Wasserstoffbombe brauchen – eine Waffe, die besser ist als ballistische Raketen oder nuklearbestückte U-Boote – und die bessere Waffe ist friedliche Zusammenarbeit.
John F. Kennedy
UN-Vollversammlung, 20. September 1963
Das Papier zur Nationalen Sicherheitsstrategie, das Scholz mit fünf Ministern gestern vorstellte, ist […] eine Enttäuschung. Es wimmelt von Allgemeinplätzen und Glaubenssätzen.
Der Spiegel (online), 15. Juni 2023
Das Gerangel um den Text hat 15 Monate gedauert. Der Präsentationstermin – ursprünglich vorgesehen war die Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2023 – musste mehrfach verschoben werden. Und schlussendlich waren grundsätzliche Dissense zwischen dem Baerbock-Haus, dem die Federführung bei der Erarbeitung oblag, und dem Kanzleramt nicht ausgeräumt, als sie am 14. Juni 2023 der Öffentlichkeit unterbreitet wurde – die erste Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) in der Geschichte der Bundesrepublik: „Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland“. Eine Strategie zur künftigen deutschen China-Politik soll nachgereicht werden, die Einsetzung eines nationalen Sicherheitsberaters und die Schaffung eines entsprechenden, ressortübergreifenden Rates mit Anbindung ans Kanzleramt sind gänzlich unter den Tisch gefallen.
Oppositionsführer Friedrich Merz war mit seinem rigorosen Verdikt flugs bei der Hand: „Das, was wir jetzt hier vorliegen haben als Nationale Sicherheitsstrategie, ist inhaltlich blutleer, strategisch irrelevant, operativ folgenlos und außenpolitisch unabgestimmt.“ Und doch blieb Merz damit ebenso oberflächlich, wie er es den Verfassern der Strategie gerade attestiert hatte. Der Kernpunkt der Kritik ist nämlich viel tiefgreifender anzusetzen, denn formuliert worden ist eine Strategie, mit der sich ohne weiteres ein neuer jahrzehntlanger Kalter Krieg mit Russland und demnächst vielleicht auch mit China führen lässt. Das aber ist keine Sicherheits-, sondern eine Unsicherheitsstrategie. „C’est pire qu’un crime, c’est une faute (Das ist mehr als ein Verbrechen, das ist ein Fehler)“, um ein wohl fälschlicherweise sowohl Talleyrand als auch Fouché zugeschriebenes Wort zu zitieren.
Ungeklärt blieb allerdings offenbar bereits die Zielstellung der NSS, was unterschiedlichen Vorstellungen der beteiligten Verfasser geschuldet sein dürfte. In seinem Vorwort erklärt der Bundeskanzler, das Ziel sei klar: „Die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu wahren und unseren Beitrag zur Sicherheit Europas zu leisten.“ Demgegenüber heißt es in der NSS selbst: „Unsere Werte […] zu schützen und zu stärken ist oberste Aufgabe und Bestimmung des Staates.“ Da scheint der Duktus der deutschen Außenministerin durch, die mit erhobenem Zeigefinger gern die Welt belehrt und der es bekanntermaßen egal ist, was ihre Wähler davon halten.
Der maßgebliche sicherheitspolitische Dreh- und Angelpunkt der NSS ist folgende Feststellung: „Das heutige Russland ist auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum.“ Das wird vor allem aus dem völkerrechtswidrigen, ungerechtfertigten Angriffskrieg Moskaus gegen die Ukraine (Zeitenwende) abgeleitet. Mit selbstkritischen Reflexionen über dessen Vorgeschichte oder gar über den deutschen Anteil an der sukzessiven Zuspitzung des Konflikts zwischen Russland und der NATO bis hin zum vollständigen gegenseitigen Vertrauensverlust halten sich die Verfasser der NSS nicht auf. Sie präsentieren vielmehr mit Aplomb ihr sicherheitspolitisches Gegenmittel schlechthin – Wehrhaftigkeit. Der Begriff zieht sich mit einer Häufung und Gewichtung durch die NSS, dass dem Eindruck – formuliert auf der Website german-foreign-policy.com – nicht widersprochen werden muss: „‚Wehrhaftigkeit‘ wird zum alles dominierenden, im Kern totalitären Imperativ.“
Olaf Scholz umreißt in seinem Vorwort zur NSS den daraus folgenden prioritären Handlungsansatz der Bundesregierung: „Die Zeitenwende […] nehmen wir zum Anlass, um unsere Bundeswehr endlich angemessen auszurüsten.“ Was die anvisierte Marschrichtung anbetrifft, wird die NSS konkreter: „Die Bundesregierung wird […] die Bundeswehr in den nächsten Jahren zu einer der leistungsfähigsten konventionellen Streitkräfte in Europa machen […].“ Betont wird in diesem Zusammenhang die Rolle der Bundesrepublik „als logistische Drehscheibe im Zentrum der Allianz“ (NATO) und dass „wir unsere militärische Präsenz gezielt im Bündnisgebiet […] ausbauen und verstetigen“ werden. (Was Letzteres bedeutet, hat Bundesverteidigungsminister Pistorius gerade mit seiner Ankündigung klargemacht, in Litauen zusätzlich zu rotierendem deutschen Militär demnächst eine Kampfbrigade in der Stärke von 4000 Mann dauerhaft zu stationieren.) In diesen Kontext ordnet sich nicht zuletzt das ausdrückliche Festhalten an der sogenannten nuklearen Teilhabe ein, also an der permanenten Bereitstellung deutscher Trägerflugzeuge für den Einsatz von in Büchel/Eifel gebunkerten US-Atombomben. Diese Teilhabe werde beibehalten, „solange es Nuklearwaffen gibt“.
Diesem ganzen Ansatz liegt der gefährliche Trugschluss zugrunde, dass die äußere Sicherheit Deutschlands im Verhältnis zur atomaren Supermacht Russland mit militärischen Mitteln, zumal im Verbund der NATO, gewährleistet werden könnte. Das ist jedoch nicht der Fall. Denn solange das Risiko eines (auch ungewollten) direkten militärischen Zusammenstoßes mit Russland besteht, der zum Atomkrieg eskalieren könnte, solange ist Deutschland der Gefahr ausgesetzt, dass im schlimmsten Falle all das, was verteidigt werden soll, irreparabel vernichtet wird. Insofern gilt nach wie vor – auch unter veränderten internationalen und militärischen Rahmenbedingungen – ein Fazit, das namhafte westdeutsche Wissenschaftler unter Leitung Carl Friedrich von Weizsäckers bereits 1970 aus ihrer damaligen umfassenden interdisziplinären Studie „Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“ gezogen hatten: „Die Bundesrepublik ist mit konventionellen Waffen nicht zu verteidigen.“ Auch nicht in Litauen – angesichts weitreichender russischer Kernwaffeneinsatzmittel.
Mit Gottvertrauen oder bloß mit Zweckoptimismus verkündet die Außenministerin in ihrem Vorwort zur NSS: „Uns in allen Lebensbereichen robuster zu machen, das ist Ziel dieser ersten Nationalen Sicherheitsstrategie.“ Robust, so ist dem Duden zu entnehmen, meint „kräftig, stabil; nicht empfindlich“. Wie solche Robustheit im Hinblick auf die direkten Wirkungen und die kollateralen Auswirkungen von Kernwaffen zu erreichen wäre, darauf sind Wissenschaftler, Ingenieure und Ärzte die Antwort während des gesamten Kalten Krieges und bis heute schuldig geblieben. Die maßgeblichen Feldforschungen zu diesem Thema jedoch sind von den USA bereits nach deren Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki akribisch betrieben und die Resultate publiziert worden. Die offiziellen Untersuchungsergebnisse des Pentagons liegen unter dem Titel „Die Wirkungen der Kernwaffen“ seit 1960 auch in Deutsch vor. Der 500 Seiten starke, umfänglich illustrierte Band sollte auch in der Fachbibliothek des Auswärtigen Amtes zu finden sein. (Die Verfasser der NSS sind von entsprechendem Sachwissen offenbar unbeleckt; anders ist eine Selbstverpflichtung wie diese schlechterdings nicht zu verstehen: „Um die nötige Widerstandskraft für einen Konfliktfall zu entwickeln, wird die zivile Verteidigung im Rahmen der Gesamtverteidigung grundlegend überprüft und gestärkt.“)
Sicherheit im Verhältnis zu einer Atommacht wie Russland kann nicht militärisch, weder atomar noch gar konventionell, herbeigerüstet werden. Solange Konfrontation das gegenseitige Verhältnis prägt, ist bestenfalls ein Zustand gleicher Unsicherheit der Gegner („Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter.“) erreichbar, immer unter dem Damoklesschwert der atomaren Apokalypse. Demgegenüber ist im Verhältnis zu Russland eine Sicherheit, die dem Wortsinne – Abwesenheit von Gefahr und Bedrohung, zumal existenzieller – entspricht, nur in Gestalt kooperativer, gemeinsamer Sicherheit zu haben. Das alles ist zu Beginn der 1980er Jahre, auf einem Höhepunkt des ersten Kalten Krieges, von einschlägigen Experten aus West und Ost schon einmal durchdekliniert worden (Palme-Bericht, 1982). An den damaligen Begründungszusammenhängen hat sich seither nichts geändert, denn für die Feindschaft gegenüber und gar zwischen Atommächten ist die Frage, ob sie zugleich Systemgegner sind oder nicht, irrelevant.
Diese Erkenntnisse legten im Hinblick auf den Ukraine-Krieg die Schlussfolgerung nahe, dass auf Deeskalation hingearbeitet werden müsste, auf schnellsten Waffenstillstand und sofortige Verhandlungen zur politisch-diplomatischen Beilegung des Konflikts. Aber unabhängig davon, wie realistisch die Chancen dafür heute stehen, sollte der Westen „Vorstellungen für das langfristige Verhältnis zu Russland formulieren, damit wir dem Land signalisieren, dass wir es nicht zum Feind haben wollen“. So meinte gegenüber dem Verfasser dieses Beitrags bei einem Gedankenaustausch während der Erarbeitung desselben Christoph Bertram, bis zu seiner Pensionierung Chef der Stiftung Wissenschaft und Politik, des überparteilichen Denktanks der Bundesregierung. Doch nichts davon, nicht einmal in Ansätzen, findet sich in der Nationalen (Un-) Sicherheitsstrategie der Bundesregierung.
Schlagwörter: Atomkrieg, Auswärtiges Amt, Baerbock, Kanzleramt, Nationale Sicherheitsstrategie, Scholz, Sicherheit, Wolfgang Schwarz