26. Jahrgang | Nummer 12 | 5. Juni 2023

Erikas (Rügen-) Reise

von Dieter Naumann

Thekla Charlotte von Gumpert (1810-1897), verheiratete von Schober, gilt als Begründerin der trivialen Kinder- und Jugendliteratur, mit der sie vor allem die jungen Mädchen auf die Gesellschaft vorbereiten wollte; auf eine ständische Gesellschaft, geprägt durch Preußentum und Religiosität, die ihr eigenes Leben bestimmte.

Von Gumpert hatte freundschaftliche Beziehungen zu Luise Radziwill, der jüngsten Tochter des Statthalters von Posen, und übernahm nach deren Verheiratung die Erziehung ihrer Kinder. Hier fand sie wohl erstmals Anregungen zu ihren Jugendschriften, von denen 1843 als erste „Der kleine Vater und das Enkelkind“ bei Duncker in Berlin erschien. Da ihr erbaulich-betuliches Frauenbild offenbar den Geschmack der damaligen Gesellschaft traf, wurde sie zu einer der meistgelesenen Kinder- und Jugendschriftstellerinnen ihrer Zeit. Ab 1855 erschien bei Carl Flemming in Glogau mit großem Erfolg ihr wohl bekanntestes Werk, die jährlich fortgesetzte Reihe „Töchter-Album“ mit dem Untertitel „Unterhaltungen im häuslichen Kreise zur Bildung des Verstandes und des Gemüths der heranwachsenden weiblichen Jugend“. Von der bis 1930 in 76 Bänden erschienenen Reihe gab sie zusammen mit Gleichgesinnten die Ausgaben 1 (1855) bis 43 (1897) heraus. In einem Brief gab sie zu verstehen, dass sie ihre Literatur nicht als Mittel „zur müßigen Unterhaltung, sondern als Erziehungsmittel“ verstanden wissen wolle, „und zwar so, dass sie Verstand und Herz zu bilden und die Willenskraft anzuregen und zu leiten sucht“.

Der 1884 erschienene dreißigste Band des „Töchter-Albums“ mit 36 Erzählungen, kleinen Theaterstücken und Reiseberichten von 32 Autoren und Autorinnen enthält in Thekla von Gumperts Erzählung „Erikas erste Reise“ unter anderem die Beschreibung eines fiktiven Rügenbesuches.

Die siebzehnjährige Waise Erika berichtet in Briefen an ihre Freundin Anna über diese Reise, die sie zusammen mit einem seit seiner Kindheit „Maulwurf“ genannten Onkel unternimmt, der sich ihrer, obwohl nicht mit ihr verwandt, angenommen hat. Die Briefform hatten vor von Gumpert unter anderem schon Kosegarten und Grümbke für ihre Rügen-Reisebeschreibungen genutzt. Mit „Maulwurfs Aufsätzen“, die Erika in ihre Briefe einfließen lassen soll, sorgt von Gumpert geschickt für zusätzliche Erläuterungen und Belehrungen. Die zur Rügenreise gehörenden Aufsätze, „Geschreibsel“, wie es der Onkel selbst nennt, beinhalten zunächst einen Überblick über Rügen. Es sei das „Ländchen, das man ein Wunder der Ostsee nennen könnte“, das zuweilen auch als „das deutsche Island“ bezeichnet werde. Dieser Name gelte nicht seiner Form, nicht seinen Bewohnern, sondern seiner ältesten Sagengeschichte. Aus der Vogelperspektive sehe es einem polypenartigem Geschöpf mit kleinem Körper (Rügen) und vielen Armen (Wittow, Jasmund, Mönchgut, Schmale Heide und Schaabe) ähnlich. Die einzelnen „Länderteile“ würden durch Meerbusen und Bodden, aber auch durch ihre Bevölkerung, die sich in Sitten, Dialekt und Kleidertracht unterscheide, getrennt, was besonders auffällig auf Mönchgut sei. Ein weiterer Aufsatz befasst sich mit dem Götzenkult um Swantevit, dem Hauptgötzen der Rügenslawen am Kap Arkona, und den vier-, fünf- und siebenköpfigen Götzen zu „Karenza“. Charenza hielt man bis Anfang des 21. Jahrhunderts fälschlicherweise für das heutige Garz, verortet es aber heute im Ergebnis jüngerer Forschungen nach Venz.

Die Halbinsel Jasmund sei, so der Onkel weiter, im Besitz der merkwürdigsten und schönsten Eigentümlichkeit des ganzen Inselgebietes von Rügen: den Kreidefelsen, insbesondere der Stubbenkammer mit dem Königsstuhl. Gleich Pyramiden und Pfeilern eines mächtigen Tores würden die „Kolosse der Stubbenkammer“ aus der Tiefe herausragen. Da das Gehen am Strand wegen der scharfen spitzen Feuersteine beschwerlich sei, nähere man sich Stubbenkammer von Sassnitz aus am besten durch den Wald – eine noch heute aktuelle Empfehlung. Die Entstehung der Kreide und der Feuersteine betrachtet Onkel „Maulwurf“ als Wunder der Natur, deren Arbeit zwar durch Naturgesetze regiert würde, Gesetzgeber sei aber Gott der Allmächtige.

Zurück zu Erika, die in ihrem achten Brief an Anna den Aufenthalt auf „Onkelchens vielbewunderter Insel Rügen“ beschreibt. Sie sind im Fischerdorf Sassnitz angekommen und blicken bei einem Spaziergang auf die zahlreichen Fischerboote, die mit silbern funkelnden Heringen beladen waren. Ein Fischer berichtete, sie hätten in den vergangenen Tage Fänge mit bis zu zweihundert Wall (ein Wall entspricht achtzig Fischen) in den Netzen gehabt. Allerdings komme es auch vor, dass der Fang kaum für ein Abendbrot reiche.

Beide übernachteten zunächst in einem Hotel, um am nächsten Morgen billigere Unterkunft in einem Fischerhaus zu suchen. Das war bei vielen Rügenreisenden durchaus üblich, um – sehr zum Ärger der Hotel- und Pensionsbesitzer – Kosten zu sparen. Im August 1868 hatte das Rügensche Kreis- und Anzeigenblatt über einen Sassnitzer Gastwirt berichtet, der einen Berliner Kaufmann kurzerhand vor die Tür gesetzt haben soll, weil sich dieser bei ihm nur einlogiert hätte, um eine preiswertere Unterkunft bei einem Sassnitzer Fischer zu finden. Erika und der Onkel entdeckten bald eine hübsche Wohnung bei einer freundlichen Fischerfamilie und besuchten am Sonntag die Waldkirche. Waldkirchen existierten auch in anderen Badeorten, ehe dort „richtige“ Kirchen gebaut wurden. Die von Pastor Gustav Adolph Wendorf initiierte Sassnitzer Waldkirche bestand zunächst aus zwei kreisförmig angeordneten Reihen Rasenbänken, später durch Holzbänke ersetzt, und dem aus Rasen angerichteten Altar.

Mittagessen nahmen die beiden Sassnitz-Besucher an einem Tag im „Hotel Fahrenberg“ ein, das Erika als „großes Gebäude, wo viel Fremde wohnen, sehr schön im Grünen gelegen, doch für Badegäste etwas weit“ beschreibt. Das Hotel hatte der clevere Bergener Malermeister Theodor Paulsdorff 1869 aus dem Eichenholz der Ladung und des Schiffskörpers einer vor Saßnitz aufgelaufenen holländischen Bark errichten lassen. Später wurde es erheblich erweitert und modernisiert, war „Reichsschulungsburg“, Lazarett und Krankenhaus, ehe es 1996 abgerissen wurde.

Ein Ausflug führte Erika und den Onkel nach Stubbenkammer. „Im großen Hotel Stubbenkammer übernachteten wir, Onkelchen that es mir zuliebe, damit ich die Kreidefelsen bei verschiedenen Beleuchtungen sehen konnte.“ Im Hotel konnte man sich morgens zur Betrachtung des Sonnenaufgangs wecken lassen oder abends zusehen, wenn brennende Reisigbündel von den Kreideklippen als Feuerregen heruntergestürzt wurden. Zum Sonnenaufgang äußerte sich Schneider 1823 in seinem „Reisegesellschafter“: „… man … siehet, da gewöhnlich vor Aufgang der Sonne die aus der See aufsteigenden Dünste den Horizont trüben, nichts, denn in zwanzig Tagen vielleicht kaum Einmal steigt die Sonne ganz rein und ungetrübt aus dem Ocean hervor.“

Zum „Hotel Stubbenkammer“ bemerkte der Berliner Journalist Gustav Rasch 1856, über Unterkunft und Verpflegung könne man sich nicht beschweren. Er habe jedoch an den teuersten Orten Englands, Frankreichs und der Schweiz gewohnt und gelebt, die Preise im Gasthof zur Stubbenkammer überträfen aber die der dortigen Gasthöfe und Restaurants bei weitem. Ein Offizier habe dem Wirt die Hälfte der Rechnung vor der Nase abgezogen und ihm die Alternative gestellt, sich entweder damit zu begnügen, oder ihn in Berlin beim Stadtgericht zu verklagen. Wirt Friedrich Behrendt habe seufzend die erste Variante gewählt. Noch 1918 hatte der ebenfalls aus Berlin stammende Schriftsteller Ludwig Sternaux vermerkt: „Fabelhafte Portionen, aber teuer… Nicht nur im Kriege übrigens, immer schon.“

Von Sassnitz unternahmen Erika und der Onkel mit dem Dampfschiff eine „Tagespartie“ nach Arkona, ehe sie die Heimreise in die Lüneburger Heide antraten.

Thekla von Gumpert nutzt die von Onkel „Maulwurf“ als „Geschreibsel“ bezeichneten historischen Erläuterungen, religiösen Belehrungen, Sagen, Berichte über berühmte Persönlichkeiten und Landschaftsbeschreibungen, um ihr selbst gelebtes Lebensmotto den Leserinnen „schmackhaft“ zu machen: Basis für Glück in allen Lebenslagen sei die „auf dem Boden eines frommen Glaubens“ basierende „gewissenhafte Pflichttreue im Kleinen und im Großen“. Obwohl die beschriebene fiktive Rügenreise neben den anderen Zielen in „Erikas erste Reise“ nur einen geringen Raum einnimmt, ergibt sich dennoch ein interessanter und realistischer Blick auf einen Inselbesuch, wie er Ende der 1870er/Anfang der 1880er Jahre als Teil einer größeren Reise möglich gewesen wäre.