26. Jahrgang | Nummer 13 | 19. Juni 2023

Der große Prozess

von Jürgen Hauschke

Der Germanist und Romanist Uwe Neumahr hat bereits mehrere Bücher geschrieben: Über Cesare Borgia, den Renaissance-Fürsten, über Miguel de Cevantes, den „Erfinder“ des modernen Romans mit „Don Quijote“, und über Benvenuto Cellini, Bildhauer und „Verbrecher“ aus der Zeit der Renaissance. Die drei genannten sind Biographien über außergewöhnliche und exzentrische Persönlichkeiten ihrer Jahrhunderte zurückliegenden Zeit. Nun legt Neumahr ein weiteres Buch vor, das einen ganz anderen Ansatz verfolgt.

Der titelgebende Ankerpunkt ist „Das Schloss der Schriftsteller“. Der Untertitel rubriziert zeitlich und örtlich „Nürnberg ’46“ und verspricht ein „Treffen am Abgrund“. Der kundige Leser des Untertitels vermutet sofort und richtig, das Buch thematisiert den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Dieser fand vor dem eigens dafür eingerichteten Militärgerichtshof der Alliierten statt. Er dauerte über zehn Monate vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946. Gerichtsort war der Justizpalast in Nürnberg. Die vier Hauptalliierten der Anti-Hitler-Koalition saßen in Nürnberg gemeinsam zu Gericht: Frankreich, Großbritannien, Sowjetunion und USA. Die Stadt wurde hauptsächlich wegen der günstigen räumlichen Gegebenheiten gewählt. Der Justizpalast samt dem anschließenden Gefängnis war unbeschädigt geblieben. Die symbolische Bedeutung, die der fränkische Ort, zweitgrößte Stadt Bayerns, als der Austragungsort der „Reichsparteitage“ der NSDAP und als Beschlussort der „Nürnberger Gesetze“ hatte, zählte nicht vordergründig.

Das Tribunal konzentrierte sich auf vier Anklagepunkte: Verschwörung gegen den Frieden, Entfesselung und Führung eines Angriffskrieges, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zu den 24 Angeklagten gehörten Hermann Göring, Wilhelm Keitel, Julius Streicher, Joachim von Ribbentrop, diese und acht weitere wurden zum Tode durch den Strang verurteilt. Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Heinrich Himmler hatten sich bereits durch Selbstmord einer möglichen Verurteilung entzogen. Sieben Angeklagte erhielten Freiheitsstrafen, drei wurden freigesprochen und bei zweien wurde das Verfahren eingestellt.

Außerdem verurteilte das Gericht das Führungskorps der NSDAP, die Gestapo, SS und SD als verbrecherische Organisationen.

Zu einem zweiten, bereits geplanten internationalen Prozess kam es nicht. Die zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse dauerten bis 1949 und wurden vor einem ausschließlich amerikanischen Gericht verhandelt.

Noch mitten in der Zeit der gemeinsamen Verhandlung gegen die Hauptkriegsverbrecher beschwor der abgewählte britische Premierminister Winston Churchill am 5. März 1946 in Fulton, Missouri, in einer in die Geschichte eingegangenen Rede: „Von Stettin an der Ostsee bis hinunter nach Triest an der Adria ist ein ‚Eiserner Vorhang‘ über den Kontinent gezogen.“ Das Bild stand für die erkennbare Teilung Europas und der Welt im beginnenden Kalten Krieg zwischen den Macht- und Einflusssphären der Sowjetunion auf der einen und ihren zeitweiligen westlichen Alliierten, zuvorderst den USA, auf der anderen Seite. Die Sieger des großen Weltkrieges wurden zu Gegnern. Churchills Rede hatte nicht nur ein großes internationales Echo, sondern auch unmittelbare Auswirkungen auf den Nürnberger Prozess. Die Angeklagten hofften gar, das Tribunal würde in absehbarer Zeit auseinanderfallen und seine Arbeit einstellen. Churchill sollte als Zeuge für die Verteidigung vorgeladen werden. Nun, diese Hoffnungen zerstoben, der Prozess wurde durch die Richter unbeeindruckt weitergeführt. Leider geht Neumahr auf die Einbettung des Prozesses in den Kalten Krieg nur an einzelnen Beispielen ein und verzichtet auf eine umfassende historische Einordnung.

Was ihm aber hervorragend gelingt, ist seine Beschreibung der Atmosphäre des Prozesses, die Beweggründe der Ankläger und die Verteidigungsstrategien der Angeklagten. Im Zentrum von allem stehen jedoch ausgewählte Berichterstatter über den bedeutsamen Prozess.

Anfangs beschreibt Neumahr „Das Presselager im Bleistiftschloss“. Die internationalen Berichterstatter, nicht die mit deutschen Ausweisen, wurden im beschlagnahmten Schloss der Schreibwarenfabrikanten Faber-Castell im Ort Stein bei Nürnberg untergebracht. Der im Stil des Historismus erbaute burgartige Komplex hatte den Krieg ohne nennenswerten Schaden überstanden und wurde in ein internationales „Press Camp“ für mehrere Hundert Pressevertreter umgewandelt. Das Faberschloss diente als Arbeitsstätte, Herberge und geselliger Ort zugleich.

In dreizehn Kapiteln verschränkt Neumahr in biographischen Skizzen das Leben von Angeklagten, von Zeitzeugen und von mitunter erst später berühmt gewordenen Berichterstattern. Zu den letzteren gehören Willy Brandt und Markus Wolf oder Wolfgang Hildesheimer. Bereits bekannte Schriftsteller waren Erich Kästner, Dos Passos, Elsa Triolet oder Erika Mann. Dass Brandts und Wolfs Lebenswege sich Jahrzehnte später mehrfach kreuzten, bleibt natürlich nicht unerwähnt.

Wie umgehen mit den Deutschen? Mit den Menschen dieser Nation, die Massenmorde zu verantworten hatten, deren ungeheuerliches Ausmaß erst allmählich bekannt wurde, zum Beispiel durch dokumentarische Filmaufnahmen von der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau bei München?

Der britische Diplomat Baron Robert Vansittart, ein Gegner der Appeasementpolitik Neville Chamberlains, vertrat eine antideutsche Linie, die man bald als Vansittartismus bezeichnete, und die unter vielen Akteuren in Nürnberg verbreitet war. Deutschland sei von Grund auf militaristisch und die Deutschen hätten eine fortwährenden aggressiven „Volkscharakter“ seit der Zeit des Römischen Reiches. Jetzt seien einige Generationen von Umerziehung vonnöten. Diese Ideen stießen bei vielen Korrespondenten auf Sympathie, auch unter ursprünglich aus Deutschland stammenden wie Erika Mann. Das betraf auch die These von der Kollektivschuld der Deutschen. Andere hingegen lehnten den Vansittarismus ab, wie Willy Brandt, der ihn bereits 1946 als „Rassismus mit umgekehrten Vorzeichen“ bewertete.

Der erste Zeuge nach Verlesung der Anklage war General Erwin von Lahousen, ein enger Mitarbeiter des Abwehrchefs Admiral Wilhelm Canaris. Für die geplante, aber missglückte  Sprengung von Hitlers Flugzeug nach dessen Frontbesuch in Smolensk am 17. März 1943 hatte Lahousen den Sprengstoff und die lautlosen Zünder besorgt und an Bord geschmuggelt. Er war einer der wenigen Widerstandskämpfer innerhalb der Deutschen Wehrmacht, die Hitlers Rachefeldzug nach dem misslungenen Attentat vom 20. Juli 1944 überlebt hatten. Als Hauptzeuge und einziger Kronzeuge der Anklage entlarvte er einige Propagandalügen der Nazis. Lahousen war ursprünglich Österreicher wie auch Hitler, heute ist er fast vergessen, aber ein Zeuge gegen die These von der Kollektivschuld.

Im letzten Kapitel schreibt Neumahr in einer Art Nachwort über Golo Manns Einsatz für Rudolf Hess. Anders als seine Schwester Erika lehnte der den Begriff „Kollektivschuld“ ab. Im gefiel die These Karl Jaspers‘ von der „Kollektiv-Haftung“ besser. Ende der 1960er Jahre setzte er sich öffentlich für die Freilassung von Rudolf Hess ein. Der „Stellvertreter des Führers“ in Parteiangelegenheiten war als Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg zu wörtlich genommener lebenslanger Haft verurteilt worden. Inzwischen war er der einzig verbliebene Häftling im noch immer von der vier Alliierten gemeinsam geführten Militärgefängnis in Berlin-Spandau. Golo Mann setzte sich auch für Heß ein, weil dieser über Manns jüdischen Großvater mütterlicherseits seine schützende Hand gehalten hatte. Heß’ Freilassung scheiterte mehrfach am Veto der Sowjetunion. Neumahr fasst zusammen: „In Erika Manns ‚unversöhnlichem Hass‘ (Tilmann Lahme) und Golo Manns Bemühung um Milde standen sich zwei Positionen diametral gegenüber. Sie sollten repräsentativ werden für Teile der [west-, J.H.]deutschen Nachkriegsgesellschaft.“

Über das gut lesbare Buch hinaus weist die aktuelle Politik zurück auf Nürnberg. Das Nürnberger Urteil gilt inzwischen als juristischer Präzedenzfall für die Beurteilung von Angriffskriegen. Das Völkerstrafrecht wurde entsprechend entwickelt. Völkerrechtswidrige Angriffskriege selbst geführt haben seither im Übrigen alle vier ehemaligen Alliierten.

Mitunter liest man heute in manchen Kommentaren davon, wie damals gegenüber Deutschland, dass Russland schon immer aggressiv zu seinen Nachbarstaaten gewesen sei und dabei stets imperiale Ziele verfolgt habe. Doch genau wie einst hinsichtlich Deutschlands ist eine differenziertere Betrachtungsweise der russischen Geschichte sinnvoller als eine Pauschalverurteilung und kommt der Wahrheit näher.

Gegenüber Russland wurde nach dem Überfall auf die Ukraine, auch von der deutschen Außenministerin, eine Anklage beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gefordert. Am 17. März 2023 erließ dieser Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin sowie die russische Kinderrechtskommissarin Marija Lwowa-Belowa wegen Kriegsverbrechen. Konkret wird den beiden vorgeworfen, völkerrechtswidrige Deportationen von ukrainischen Kindern nach Russland verantwortet zu haben. Allerdings wird der Gerichtshof weder von Russland noch den USA anerkannt, aber auch nicht von China, Indien, etlichen afrikanischen Staaten und Israel.

 

Uwe Neumahr: Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg ’46. Treffen am Abgrund, C.H. Beck, München 2023, 304 Seiten, 26,00 Euro.