Wer es unternimmt, das internationale System zu beschreiben, wird nicht umhin können, den phänomenalen Aufstieg Chinas zur führenden Weltmacht in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Die gelegentlichen Probleme der politischen Führung Chinas mit der Bewältigung der Covid-Pandemie konnten diesen Aufstieg nur wenig verzögern.
Wandel der Korrelation der Kräfte
In der Tat stellen vor allem die wachsende Stärke Chinas und das Selbstbewusstsein seiner politischen Führung eine noch vor kurzer Zeit für unmöglich gehaltene Herausforderung für die westlichen Länder dar. Diese Herausforderung drückt sich nicht nur in dem entschlossenen wirtschaftlichen Ausgreifen Chinas im globalen Maßstab aus. Auch im Bereich von Wissenschaft und Technologie einschließlich der Weltraumfahrt sowie auf dem Felde der militärisch unterlegten Außen- und Sicherheitspolitik begegnen wir einem Engagement, das alle unsere früheren Erwartungen im Hinblick auf das Verhalten dieses Staates in den Schatten stellt. In der Tat nutzen die politischen Entscheidungsträger in Peking im Rahmen ihres geopolitischen Projekts der „Neuen Seidenstraße“ jede sich bietende Gelegenheit, ihren Einfluss selbst in weit entfernten Regionen der Welt zu vergrößern. Mit strategisch bedeutsamen wirtschaftlichen Maßnahmen in Europa, in zahlreichen Staaten des Nahen Ostens, Zentralasiens, Afrikas, Südamerikas und der asiatisch-pazifischen Region signalisiert China immer deutlicher, wer künftig die führende Weltmacht sein wird. Dabei geht die politische Führung Chinas ganz andere Wege als ihre westlichen Konkurrenten. Man sichert sich langfristigen Einfluss vor allem mit umfangreichen Geschäftsverbindungen und Krediten sowie politischer Unterstützung, um eine dominante Position zu erreichen. Insbesondere im asiatisch-pazifischen Raum, einer Schlüsselregion der Welt, ist China so stark vernetzt, dass eine Abkopplung einzelner Staaten keine realistische Option ist. Und die im Bereich der Wirtschaftsbeziehungen zu beobachtende Abhängigkeit Europas von China ist inzwischen so groß, dass auch hier eine Entkopplung kaum möglich sein dürfte. Auch das von manchen Regierungen europäischer Länder – u.a. Deutschlands – verhängte Verbot einzelner Übernahmen bedeutender Unternehmen durch China und die vielfach von europäischen Politikern angekündigten Bestrebungen, von Lieferungen aus China unabhängig zu werden, dürften dies nicht wesentlich ändern. Und selbst die inzwischen ins Spiel gebrachte Idee, die derzeit großen Abhängigkeiten im Bereich der Wirtschaft zu diversifizieren, wird für die betroffenen europäischen Länder nicht die erhoffte Wirkung bringen. Mit Blick auf die derzeit sich entwickelnde kritische Haltung gegenüber dem Einfluss Chinas in einigen europäischen Ländern wird die politische Führung in Peking recht bald ihr Vorgehen anpassen.
Abgesehen von der direkten, sehr professionell betriebenen und machtorientierten Teilhabe an der internationalen Politik demonstriert die politische Führung Chinas nicht nur ihre Ansprüche gegenüber anderen Staaten. Sie wagt es inzwischen auch mit sichtbarem Erfolg, ihre Interessen – wie z.B. mit Blick auf den Status von Hongkong – konsequent durchzusetzen. An der unterschiedlichen Reaktion der westlichen Länder kann man ablesen, wie weit der Einfluss Chinas in eine von dem Machtrivalen USA angeführte Staatenwelt reicht, die immer noch den „Regime Change“ auf ihre Fahnen schreibt. Doch die Epoche westlicher Dominanz ist vorbei.
Über die wirtschaftliche und politische Dynamik hinaus, die wir in China beobachten können, wird immer wieder deutlich, dass die chinesischen Entscheidungsträger auch die Deutung der Weltordnung längst nicht mehr den westlichen Ländern überlassen. Sie bauen dabei auf die in ihren Augen bewährten eigenen Vorstellungen, deren Ursprung in eine ferne Vergangenheit zurückreicht. Vor allem im Hinblick auf die Zielstrebigkeit, Effizienz und Handlungsfähigkeit Chinas ist zu erkennen, dass sich die politische Elite des Landes unter der Führung des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Xi Jinping u.a. auch an den Lehren ihrer bedeutenden Denker Konfuzius (551-479 v.Chr.) und Sun Tzu (534-453 v.Chr.) orientiert und bemerkenswert kühn handelt. Beide große Lehrer prägten ein nachhaltiges Denken, bei dem langfristige Ziele den Rahmen dessen bilden, was die jeweils politisch Handelnden tun oder lassen sollten. Die Ausdehnung seiner Militärmacht im asiatisch-pazifischen Raum und das selbstbewusste Vorgehen Chinas z.B. gegenüber den USA belegen, dass hier eine neue Zeit begonnen hat. Die Repräsentanten Chinas können sich zudem weitgehend darauf verlassen, dass die meisten Landsleute das Prinzip Leistung und die Verpflichtung auf das derzeitige Kontinuität verbürgende Herrschaftssystem akzeptieren und daran interessiert sind, dessen Macht noch zu fördern. Gegen Minderheiten, wie z.B. die Uiguren, die sich nicht vollständig in das Herrschaftssystem einordnen wollen oder gegen einzelne Maßnahmen der chinesischen Regierung Widerstand leisten, geht die politische Führung konsequent vor. Dabei ist es folgerichtig, dass man in Peking die Kritik an dieser Haltung seitens westlicher Politiker ebenso wie den Vorwurf der Verletzung der Menschenrechte entschieden zurückweist.
Angesichts der beeindruckenden Herausforderung durch das professionelle und machtorientierte Handeln Chinas finden wir in den westlichen Ländern wenig, was politisch ins Gewicht fallen könnte, um dieser Herausforderung wirksam zu begegnen. Vielmehr können wir in den meisten westlichen Ländern eine Führungsschicht beobachten, die mit der Realpolitik auf Kriegsfuß steht und nicht in der Lage ist, die in vielen Bereichen sichtbaren Schwächen der Regierungssysteme zu beseitigen. Nicht nur in Deutschland und anderen europäischen Ländern, sondern auch in den USA hat man versäumt, geeignetes Führungspersonal heranzubilden und in ebenso sinnvollen wie transparenten Verfahren für Spitzenpositionen zu rekrutieren. Über die Frage, ob die derzeit praktizierte Rekrutierungsweise der führenden Politiker in den westlichen Ländern noch sinnvoll ist, wird überhaupt nicht nachgedacht. Dabei können wir die Folgen des unzureichenden Wissens und des mangelnden Realitätsbewusstseins der politischen Entscheidungsträger und ihrer Berater täglich beobachten.
Mit Blick auf die politische Handlungsfähigkeit fällt gegenwärtig auf, wie schwierig es für die westlichen Länder ist, eine längerfristig tragfähige gemeinsame Haltung gegenüber China zu erreichen. Auch die jüngsten Gipfeltreffen westlicher Staatschefs – EU, G7 und NATO in den Jahren 2022 und 2023 – konnten dies nicht verdecken. Die Eingliederung der zu den letzten beiden G7-Gipfeltreffen eingeladenen Staaten Indien, Indonesien, Südafrika, Senegal, Brasilien und Argentinien in den westlichen Staatenkreis gelang nicht. Die unterschiedlichen Interessen und Sichtweisen machen es zudem außerordentlich schwer, über die tatsächlich vorhandenen politischen und wirtschaftlichen Probleme innerhalb der westlichen Länder, erst recht aber zwischen den verschiedenen Ländern sachlich fundiert zu diskutieren und angemessene Entscheidungen zu treffen. Selbst die führenden westlichen Länder kennzeichnet eine vielfältige und tiefgreifende Fragmentierung der Gesellschaften, die es kaum noch erlaubt, die in der internationalen Politik notwendige Entwicklung von Machtressourcen und deren kluge Anwendung ins Auge zu fassen. Mit den von westlichen Politikern häufig vorgebrachten Appellen zur „Wahrung der Menschenrechte“ und zur „Einhaltung des Status quo“ etwa mit Blick auf die chinesische Insel-Republik Taiwan oder mit den immer wieder ausgedrückten Wünschen nach einer Verurteilung von Russlands Vorgehen gegen die Ukraine wird man die politische Führung Chinas nicht beeindrucken können.
Trend zugunsten Chinas im internationalen System
Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden künftigen politischen Entwicklung im internationalen System werden wir damit rechnen müssen, dass China sehr bald – etwa um das Jahr 2035 – die dominante Macht sein wird. Eine hinreichend tiefgehende gemeinsame Strategie der westlichen Länder gegenüber China gibt es nicht und wird auch künftig kaum erreicht werden können. Die im Rahmen der internationalen Politik notwendigen strategischen Denkweisen und die anwendbaren Machtressourcen finden wir eher bei den chinesischen Entscheidungsträgern, die immer wieder zeigen, „wie Strategie geht“. Vor allem im Bereich der Wirtschaft wird China in absehbarer Zukunft die USA aus ihrer Führungsposition verdrängen. Schon jetzt ist zu erkennen, dass die bisherige Dominanz des Dollars im Welthandel schwindet und der chinesische Yuan im Handel zwischen den Ländern vermehrt Verwendung findet. Abgesehen von der starken Position auf dem Gebiet der Wirtschaft wird China dank der zügigen Aufrüstung und Modernisierung seiner Streitkräfte bereits gegen Ende dieses Jahrzehnts die führende Militärmacht sein und auch in der – militärisch dominierten – Weltraumfahrt die Spitzenposition übernehmen können. Es ist in diesem Zusammenhang zu erwarten, dass die politische Führung Chinas angesichts der durchaus beeindruckenden Anstrengungen der amerikanischen Weltraumorganisation NASA und einzelner Unternehmer in den USA (z.B. Elon Musk) im Bereich der Weltraumfahrt ihr Engagement auf diesem Felde deutlich erhöhen wird.
Bei der Entwicklung und Anwendung der Künstlichen Intelligenz (KI) und der Quantentechnik ist China seinen Konkurrenten mehr als ein Jahrzehnt voraus und damit in der Lage, den eigenen Machtzuwachs beträchtlich zu erweitern und die USA hinter sich zu lassen. In der Nutzung der Nuklearenergie ist China sowohl im Bereich der Kernspaltungstechnik als auch in der Fusionstechnik ebenfalls weit fortgeschritten. Die chinesischen Entscheidungsträger werden darüber hinaus immer deutlicher ihre Bereitschaft zeigen, die ihnen zur Verfügung stehenden vielfältigen Machtressourcen konsequent und professionell einzusetzen. Das erfolgreiche weltweite Engagement, die beständige Verstärkung der Beziehungen und Einflusskanäle in vielen Staaten der Welt, vor allem aber auch das selbstbewusste militärische Vorgehen Chinas in der asiatisch-pazifischen Region weisen darauf hin, wie entschlossen man in Peking die eigenen machtpolitischen Interessen verfolgt. So wird die Wiedereingliederung der von 23 Millionen Chinesen bewohnten und nur von 14 Staaten diplomatisch anerkannten Insel-Republik Taiwan in China vollzogen werden, wenn die politische Führung in Peking zu der Auffassung gelangt, dass die dazu notwendigen Maßnahmen Erfolg versprechen. Für die chinesischen Entscheidungsträger ist die Taiwan-Frage – durchaus folgerichtig – eine interne Angelegenheit, in die sich kein anderer Staat einzumischen hat. Dabei kann man sogar auf den Alleinvertretungsanspruch pochen, der China von den Vereinten Nationen im Jahre 1971 zuerkannt worden ist. Die problematische Taiwan-Politik der mit ihrem Territorium mehr als 4000 nautische Meilen von der Insel-Republik Taiwan und der Küste Chinas entfernten USA trägt angesichts der tatsächlichen Verhältnisse den Keim des Scheiterns in sich. Mit der Formierung regionaler militärischer Zusammenarbeit im asiatisch-pazifischen Raum seitens der USA, Großbritanniens und Australiens (AUKUS) und den demonstrativen Besuchen westlicher Politiker in Taiwan dürfte es kaum möglich sein, den politischen und strategischen Wandel zu aufzuhalten. Erst recht absurd erscheint die Forderung des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, Patrouillenfahrten europäischer Kriegsschiffe im südchinesischen Meer nahe Taiwan anzuordnen. Auch die Versuche führender westlicher Länder, mit Hilfe verdeckter Operationen spezieller Dienste und der Bildung von „Netzwerken“ auf einen „Regime Change“ in China hinzuarbeiten, werden dank der Aufmerksamkeit und der professionellen Gegenwehr der Führungselite dieses Staates scheitern.
Die Welt – auf dem Weg zum chinesischen Jahrhundert
China hat auf der Grundlage seiner weit in die Geschichte zurückreichenden kulturellen Tradition der Ordnung, der Harmonie und der Rationalität, wie sie der Gelehrte Konfuzius vor 2500 Jahren begründet hat, sowie mit seinem zielstrebigen weltweit unternommenen machtpolitischen Vorgehen gute Chancen, auch in Zukunft erfolgreich zu sein. Mit Blick auf die wahrscheinliche Entwicklung des Raum-Zeit-Kräfte-Verhältnisses im internationalen System wird sich der Entschluss Chinas zu dem historischen Paradigmenwechsel und der damit verbundenen immer enger werdenden vielseitigen Partnerschaft mit Russland als vorteilhaft erweisen. Die gelegentlich für die russische Interessenlage eher vorsichtig erscheinenden chinesischen Aussagen etwa zu Russlands Krieg um die künftige politische Zuordnung der Ukraine sollten nicht überbewertet werden. Sie sind eher taktisch gemünzt und zeigen, wie unabhängig und selbstbewusst man in Peking denkt. Im Ringen um die politische Zuordnung der Ukraine – entweder zur NATO und damit zum Machtkomplex des Rivalen USA oder zum Partner Russland – steht China an Russlands Seite. Es erscheint dabei durchaus praktikabel und richtig, dass die militärische Unterstützung Russlands durch China nicht direkt, sondern über „dritte Länder“ erfolgt. China zeigte sich vor diesem Hintergrund in der Lage, mit Russland und vielen anderen Staaten eine „Counter-Alliance“ zu bilden und wird den USA mit deren Bündnispartnern künftig die Möglichkeit nehmen können, die internationale Ordnung zu dominieren. Die Partnerschaft im Rahmen der von China angeführten und an Mitgliedern zunehmenden „Shanghai Cooperation Organisation“ (SCO) wird in diesem Kontext eine wichtige Rolle spielen. Sie ist inzwischen so beständig und attraktiv geworden, dass zahlreiche Länder vor allem im asiatisch-pazifischen Raum, im Nahen Osten, in Afrika, in Zentralasien und selbst in Südamerika sich vom Westen abwenden und der neuen „Allianz“ unter der Führung Chinas zuneigen. Es erweist sich dabei sogar als Vorteil, dass China auf die ausgeprägte Bürokratisierung und Steuerung verzichtet, wie sie die von den USA dominierte NATO kennzeichnet. Die Mitglieder dieses von China ins Leben gerufenen Staatenverbundes repräsentieren schon heute mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung. Selbst die Partnerschaft mit verschiedenen untereinander tief verfeindeten Staaten im Nahen Osten, wie z.B. Iran einerseits und Saudi-Arabien sowie die Vereinigten Arabischen Emirate andererseits, gelingt der chinesischen Führung, ohne in die dortigen Konflikte hineingezogen zu werden. Vielmehr hat China sogar wesentlich dazu beitragen können, die diplomatischen Beziehungen zwischen dem schiitischen Iran und dem sunnitischen Saudi-Arabien zu normalisieren.
Vor dem Hintergrund der unbestreitbaren Erfolge chinesischer Machtentfaltung dürfte es zudem wenig hilfreich sein, über die Frage der Kontinuität der politischen Führung in China in den kommenden Jahrzehnten falsche Hoffnungen zu verbreiten. Die derzeit die Politik des Landes bestimmende Machtelite ist so fest in dem chinesischen Herrschaftssystem verankert und so professionell, dass wir nicht nur mit einem geeigneten Nachfolger des derzeit amtierenden und Anfang März 2023 von dem 2952 Mitglieder zählenden chinesischen Volkskongress einstimmig für eine dritte Amtszeit und damit für weitere fünf Jahre im Amt bestätigten Vorsitzenden der Volksrepublik Xi Jinping rechnen müssen, wenn dieser aufgrund seines Alters nicht mehr zur Verfügung steht, sondern die Machtübergabe auf den qualifiziertesten Kandidaten zuläuft, der die Kontinuität der Machtentfaltung Chinas verbürgt. Die hervorragende Ausbildung, die fachliche Kompetenz und die politische Disziplin der Machtelite werden wesentlich dazu beitragen, die Dominanz Chinas im internationalen System für lange Zeit zu sichern.
Schlagwörter: China, chinesisches Jahrhundert, Realpolitik, Shanghai Cooperation Organisation (SCO), Walter Schilling, Weltmacht, Xi Jinping