Vor allem vor der Reformation kam es an besonderen Gnadenstätten zu Wallfahrten, bei denen sich religiöser Eifer (Andacht, Erfüllung eines Gelübdes, Buße), Hoffnung auf Heilung, Reiselust und zumindest zeitweiser Ausbruch aus dem Alltag vermischten. Neben Jerusalem, Rom, Compostela und anderen bekannten Wallfahrtsstätten wurden auch andere Orte, die „wegen Reliquien und wunderthätiger heiliger Bilder“ als besonders heilig galten, „einzeln oder in Masse“ aufgesucht, wie „Brockhaus´ Conversations-Lexikon“ 1887 schrieb. „Die Ansicht, daß das Gebet in einem bestimmten Tempel oder an einem gewissen Ort wirksamer sei als anderswo, ist uralt“, heißt es in der gleichen Quelle. Was Wortherkunft und -bedeutung betrifft, tat sich Johann Christoph Adelung im „Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart […]“, 1793 in Leipzig erschienen, schwer. Es lasse sich nicht mit Gewissheit behaupten, „von welchem Stamme das Wort Wall hier abzuleiten ist“. Es stamme entweder von dem alten „wall, fremd“, da es eine Reise in die Ferne bedeute, oder von „wallen“, was „nie anders, als von dem Reisen zu Fuße gebraucht wird, auch eine Andachtsreise eigentlich und ursprünglich zu Fuße geschehen muß“.
In der Rügen-Literatur werden die Kirchen von Bobbin, Schaprode und Zudar sowie eventuell die einstige Kapelle auf der Insel Vilm als ehemalige Wallfahrtsorte auf der Insel genannt.
Zudar war im Laufe seiner langen Geschichte selten von besonderem historischem Interesse – sofern man von einem wohl aus dem 11./12. Jahrhundert stammenden, noch heute erkennbaren slawischen Burgwall und der Kirche als Wallfahrtsort im 14. Jahrhundert absieht: Ein wundertätiges Marienbild zog Gläubige aus Norddeutschland ab 1370 an, für die eine Wallfahrt zur Kirche St. Laurentius in Zudar gerade noch erschwinglich war und halb so viel galt wie eine Pilgerfahrt nach Rom. Zwei Fahrten nach Zudar und man war aller Sünden ledig. Das Marienbild könnte sich in einem Backsteinschrein (Tabernakel) an der Außenwand unter dem Nordostfenster des Chores befunden haben. Sein Verbleib ist unklar. Als 1372 bei „wedder und groth storm“ ein Wallfahrerschiff im Sund am Palmer Ort kenterte und alle 90 überwiegend weiblichen Pilger ertranken, war der Glaube in die Wunderkraft des Ortes arg erschüttert und die Wallfahrten ließen fast schlagartig nach – „also wardt dett afflath wedder gelecht, wante dar schach groth schade“ (deshalb wurde der Ablass wieder aufgehoben, weil da großer Schaden geschehen war).
Nach vereinzelter Ansicht ist nicht vollständig geklärt, ob die gescheiterte Wallfahrt tatsächlich der Kirche von Zudar oder möglicherweise der Kapelle auf der Insel Vilm gegolten haben könnte. Für jene Marien-Kapelle, die 1336, also zur Zeit der Dänenherrschaft, erstmals genannt wurde, stifteten die Herren von Putbus, damals die Brüder Johannes, Theze und Stoyzlav von Putbus. Wohl auch im Zusammenhang mit dem Wallfahrtsunglück von 1372 verfiel die Vilmer Kapelle zunächst, wurde aber 1396 durch vier Einsiedler wieder aufgebaut. Sie hatten die Erlaubnis erhalten, sich hier niederzulassen und mussten sich dafür um Beherbergung und Versorgung erkrankter Fischer und Seeleute kümmern. 1490 mussten unübersehbare Schäden an der Kapelle beseitigt werden, wobei sich wiederum das Haus derer zu Putbus finanziell engagierte und auch für eine Neuausstattung sorgte. 1494 wurde der Altar der erneuerten Kapelle feierlich zu Ehren der Dreifaltigkeit, der Jungfrau Maria, des Märtyrers Laurentius und der Elftausend Jungfrauen geweiht und soll von der Bevölkerung der Umgebung eifrig besucht worden sein. Denen, die an der Feier teilnahmen, und allen, „die Lichte zum Zierrat“ oder andere Geschenke mitbrachten, wurde ein vierzigtägiger Ablass verheißen. Erneut unternahm man Wallfahrten auf den Vilm, wobei vermutlich ein Gnadenbild, das später wohl in das Putbuser Schloss gebracht wurde, eine Rolle gespielt hat. Der einstige Standort der Kapelle ist heute durch ein Holzkreuz gekennzeichnet.
Walter Ohle und Gerd Baier verwiesen in ihrem 1963 erschienen Standardwerk „Die Kunstdenkmale der Insel Rügen“ auf einen Ablass zeitlicher Sündenstrafen, den Papst Bonifaz IX. allen Besuchern und Wohltätern der 2ecclesia parochialis S. Pauli in Babbin (Roskild. diöc.)“ 1401 verliehen habe. Wer der Pauls-Kirche in Bobbin zum Beispiel eine Schenkung vermachte, durfte auf die Abkürzung seiner Zeit im Fegefeuer hoffen. Ob dem das in einer Urkunde des Bischofs Ingver von Roskilde aus dem Jahre 1289 geschilderte „Wunder“ (die Verwandlung einer Hostie in blutiges Fleisch) zugrunde lag, ist nicht sicher.
Chronist und Pastor Ernst Heinrich Wackenroder erklärte 1730 in „Altes und Neues Rügen […]“, warum die St.-Johannes-Kirche von Schaprode um 1500 als Marien-Wallfahrtsort galt: In einem von der Patronatsloge fast verdeckten Sakramentsschrein an der Ostwand des Chores befand sich „das Marien-Bild mit dem Jesus-Kindlein in einem dazu aptirten Orte mit einem Thürlein und eisernem Gitter“. Von diesem Bilde sei „per traditionem erzehlet“ worden, „daß zu Päbstl. Zeiten Wallfahrten dahin angestellet worden, und wer dieser Heil. Marien etwas gelobet, hat vermeinet, in seinem Vorhaben, Gesuch und Anliegen begluckt zu seyn“. Ende des 19. Jahrhunderts soll das inzwischen wurmstichige Bild der Maria noch vorhanden gewesen sein. Sein Verbleib ist unklar; es soll entweder der Hildegard von Usedom überlassen oder nach dem Ersten Weltkrieg entwendet worden sein.
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