26. Jahrgang | Nummer 10 | 8. Mai 2023

Theaterberlin 

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Stolz und Vorurteil“ – Komödie am Kurfürstendamm im Theater am Potsdamer Platz / „Between“ – Varieté Chamäleon in den Hackeschen Höfen / „Sardanapal“ – Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

***

Kudammkomödie: Männerfang und Geldgewinn

Ledige Frauen sind nicht erbberechtigt! Ein patriarchalisches Machtwort, gegossen in geltendes Recht in old Englands Kingdom. Dieses demütigende Gesetz inspirierte Autorin Jane Austen (1775-1817) zu einer breit angelegten, fein gegliederte Familiensaga, in der Mrs. Bennet, eine rüstige Witwe und verzweifelt ehrgeizige Mutter von ausgerechnet fünf noch ledigen Töchtern, unter gehörigem, auch ungehörigem Aufwand sich abmüht, ihre flügge gewordenen, ziemlich exzentrischen Mädels unter eine respektable, am besten aristokratische Haube zu bringen. Um das bürgerliche Familienerbe zu retten, den sozialen Abstieg der Sippe abzuwehren.

Jane Austens mit delikater Ironie und kühler Kritik gesättigter Gesellschaftsroman „Stolz und Vorurteil“ wurde gleich nach 1813 Kult und Kassenschlager. Zwei Jahrhunderte später schnappte sich Isobel McArthur aus Glasgow den Klassiker. Und formte ihn um zu einer knalligen Komödie mit ordentlich Luft für popmusikalische Einlagen. Das bescherte ihr 2018 prompt den Laurence-Olivier-Award als „Best Comedy“.

McArthurs klasse Kick ihrer Adaption, der man überflüssigerweise den zeitgeistigen Untertitel „*oder so“ verpasste: Die abenteuerliche Story um Männerfang und Heiraterei – seit Ewigkeiten Stoff für Komödie bis Klamotte – wird erzählt von fünf Dienstmädchen, die im fliegenden Wechsel in die verschiedensten Rollen schlüpfen (es sind korrekt ihrer 18): Nämlich in die der Töchter, der Frau Mama, der Heiratskandidaten sowie der diversen Verwandten.

Das Groß-Gaudi zwischen Bällen, Schlössern und Salons ist damit programmiert: Blitzschnelle Verwandlungen, groteske Kostümierungen, Missverständnisse, Eifersucht, Intrigen, Herzklopfen, Herzschmerzen – natürlich immerzu im Schnellsprech- und Turbo-Klipp-Klapp-Modus, wie es die Regie von Christopher Tölle pässlich will und logistisch perfekt arrangiert. Freilich, man verliert bei allem Chargieren, Karikieren, Kalauern, Kreischen, Juxen, Heulen gelegentlich die Übersicht, wer denn nun wie warum gerade mit wem oder gegen …

Macht nix. Dann schmeißt Gitarrist Robert Käßler die Playback-gestützte Hitmaschine mit dem süffigen 80er-Mix an – „Lady in Red“, „Time After Time“ et cetera. Und stürzt das ohnehin auf Begeisterung erpichte Publikum in Ekstase.

So feierte es denn bis an den Rand totaler Verausgabung diese erste Premiere der Kudamm-Bühne im riesigen 1800-Plätze-Interim am Potsdamer Platz. Und sonderlich das Quintett der rasenden Damen Anna Maria Mühe (die erste Arbeit des Filmstars im Theater), Johanna Asch, Mackie Heilmann, Nadine Schori, Birthe Wolter. Und das Ende vom schrillen Trallala? Natürlich Liebe, Brautkranz, Geldgewinn. Was sonst.

***

Chamäleon: Mit Knall durch die Tapete 

Der Vorhang rauscht. Nein. In diesem pittoresken Etablissement aus der Kaiserzeit, da rattert es. Rattert wunderbar nostalgisch ein Tuch auseinander. Und ein Traumraum in melancholischem Halbdunkel hat seinen Auftritt bei leiser Musik: Da schwebt Federgetier, wuchert Geblümtes über eine malerische Riesentapete; von oben funkelt festlich ein Kristalllüster, am Boden prunkt ausladend ein Samtsitzmöbel. Wow, was für ein Gehäuse! Man staunt offenen Munds. Doch da kracht – o Schreck! – im freien Fall und scheinbar aus dem Himmel ein Mensch. Und mit Knall hinein ins Sofa. Gottseidank, keine Knochenbrüche.

Der Knall macht Schluss mit märchenhaft schimmernder Salonstimmung. Der Knall ist Startschuss für ein irritierend entfesseltes Toben der Künstlerkompanie Circo Aereo hinauf und hinunter durch die Luft und von rechts nach links über den Boden und – Ratz! – hinaus durch die Tapetenwand.

Das ist Artistik der schönsten Art. Gerade diese Szene mit schier schwerelos wirbelnden, spielerisch ineinandergreifenden, auseinander stürzenden Körpern, raffiniert inszeniert im zauberhaften Ambiente, bringt den Titel dieser immerzu überrumpelt staunen, aber auch lachen machenden Show auf den schillernden Punkt: „Between“. – Zwischen heftigem Hochleistungssport und sanfter Entrücktheit.

Regisseur Maksim Komaro sagt es so: „Wir erkunden ein Schweben zwischen Wachen und Träumen in einer Sammlung von Bildern wie aus einer anderen Welt.“ Höchst unterhaltsam. Höchst seltsam.

Für den kleinen romantischen Vergnügungspalast inmitten eines feinen Stücks Altberlin gilt: Die taffe Art-Direktorin schaut sich genau um auf dem Globus und engagiert nur Großes. Eben die siebenköpfige, international gemischte finnische Truppe von Circo Aereo. Sie zählt zu den besten der Branche; Auszeichnungen weltweit bekräftigen das. Sozusagen amtlich. Und so rufen auch wir ohne Amt mit Lust ins Land: „Between“, ihr betörendes, jegliche Schwerkraft fantasievoll außer Kraft setzendes Programm zählt – gerade auch durch seine ingeniöse Theatralik – zum Aufregendsten, was wir bislang sahen im Chamäleon, diesem weithin bewunderten innovativen Zentrum der liebevollen Präsentation (und nicht zuletzt umsichtigen Förderung!) des Neuen Zirkus. Jubel, Jubel!

***

Volksbühne: Wenn eine Taube aufs Schachbrett kackt 

Früher, also zu DDR-Zeiten, hatten wir die beliebten so genannten Häuser der jungen Talente; in der Hauptstadt war es das ehemalige Stadtpalais derer von Podewil hinterm Alexanderplatz. Ein veritabler Ort des Vergnügens und Entwickelns.

Jetzt, könnte man meinen, ist dafür die seit Castorfs Dominanz verzweifelt ums ästhetische Konzept ringende Volksbühne zuständig. Junge Begabungen im Schauspielerischen (das respektable Jugendtheater P14 mit eigenen Studioproduktionen) oder im Tänzerischen, Akrobatischen, Musikalischen – da gibt es schöne Auftritte, sozusagen die Würze in diversen Inszenierungen auf großer Bühne. So auch in „Sardanapal“ von George Gordon Byron (1788-1824).

In dieser leider ziemlich vergessenen Tragödie sind nun mit von der Partie: das Jugendsinfonieorchester des Georg-Friedrich-Händel-Gymnasiums aus dem Stadtbezirk Friedrichshain und das Tanzensemble Flying Steps. Das Orchester spielt bewundernswürdig Gemischtes von Gustav Mahler bis Abba. Und die Tanztruppe tobt effektvoll in mehr oder weniger strengen Arrangements durch den zusammengeschusterten Abend. Denn von „Inszenierung“ kann keine Rede sein. Und von „Stück“ auch nicht.

Fabian Hinrichs als Regisseur lässt nur wenig übrig vom Blankversdrama, das Byron 1821 Goethe verehrungsvoll zu Füßen legte. Hinrichs Textbrocken umkreisen höchstens Lord Byrons Grundthese: Richtig Leben heiße „Essen, Trinken, Lieben“. So nämlich bringt der assyrische König Sardanapal sein Lebensmotto auf den Punkt. Lebenszweck ist also nicht Machtgier und Ruhmsucht, sondern Liebeslust und Genusssucht. Eigentlich sympathisch und pässlich für unsere kriegerische Gegenwart. Natürlich muss letztlich alles böse enden für den gutmeinenden König. Das Volk motzt, er wird lebendig verbrannt.

Hinrichs, ein ansonsten großer Schauspieler, wankt als Regisseur unentwegt zwischen (unfreiwilliger?) Komik, süßlichem Kitsch und alberner Parodie. Beispielsweise krächzt er nervtötend Schuberts Weihelied „An die Musik“, jetzt wieder Schauspieler und irrlichternder Wiedergänger des Barons, verkleidet im dunklen Tanzstunden-Anzug. Und Lilith Stangenberg, einst Castorfs Schauspieldiva, nunmehr Hinrichs‘ Mitspielerin, kreischt unverständlich Celans Gedicht „Corona“. Oder träumt als eine vom Alltag angewiderte Supermarkt-Kassiererin von herrlichster Entgrenzung. Indem sie ausbricht aus dem Rewe-Kassen-Counter und vom Urlaub am Meer faselt. Beim Stichwort Wasser kippt sie sich eine Flasche Selters übern Kopf, beim Stichwort Strand verschüttet sie eine Tüte Mehl. Und suhlt sich drin. Seltsame Ferienspiele.

Das läppert sich fort mit Popsong-, Tanz-, Orchestereinlagen. So soll eine Feier der holden Kunst und des Byronschen Hedonismus entfacht werden. Um sicher zu gehen, werden noch 100 Becher Weißwein zur Aufhellung der Stimmung ans Publikum verteilt. Die Tragödie ist ohnehin gestrichen.

Und Sardanapal? Erst zur Halbzeit der gut einstündigen Veranstaltung hat die Hauptperson endlich ihren Auftritt. Vorgesehen für die königliche Rolle war Großschauspieler Benny Claessens, Hinrichs‘ berühmter, beleibt-sanguinischer Busenfreund. Doch der schmiss am Tag vor der Premiere. Ansage: Plötzliche Erkrankung.

Also übernahm Hinrichs, spindeldürr und nunmehr ohne Smoking. Dafür im antikisierten Badetuch, das dürre Textbuch vor der Nase zum Ablesen – mit nervender Larmoyanz in der Stimme. Ein verhungerter Heulsusen-Herrscher aus Assyrien. Kein Fest der Lebenslust. Und auch der finale Feuertod, posierend auf in die Höhe schießenden Bühnenpodesten mit der Geliebten an der Hand – die Stangenberg im Nachthemdchen – ist bloß ein neckisch-schwüles Bild im Rotlicht. Umturtelt vom Ballett, das fleißig mit Flammentüchern wedelt. Dazu „Dancing Queen“ im schmissigen Sound des Orchesters.

Vor fünf Jahren, als Juror des Theatertreffen-Alfred-Kerr-Preises, schrieb Hinrichs in seiner Laudatio auf Claessens: „Inmitten all des entfremdeten, austauschbaren und nicht zu Ende sozialisierten, notgedrungen oder gar freudig mitlaufenden Servicepersonals auf den Bühnen dieses Theatertreffens gab es jemanden mit Präsenz. Präsenz als erfahrbarer Unterschied zur Entfremdung.“ – Klug geschwärmt. Ein zielgenauer Schlag ins Gegenwartstheater.

Über Hinrichs‘ dilettantische Byron-Bastelei schrieb der nun nicht präsente, dafür wütende Aussteiger Benny vom Krankenlager auf Instagram: „Mit dummen Menschen streiten ist, als würde man mit einer Taube Schach spielen. Egal, wie gut du Schach spielst, die Taube wird alle Figuren umwerfen, auf das Brett kacken und herumstolzieren, als hätte sie gewonnen.“

Tja, so wurde die verkackte Show doch noch zum irgendwie Drama. – Aber nichts ging über die jungen Talente!