An einem Probenwochenende spricht unser Chorleiter plötzlich von Sänger:innen und Besucher:innen. Ich spüre, wie mir die Gender-Stolperer in den Magen fahren und meine Gedanken wegdriften. Ich verpasse den Einsatz, blättere in den Noten und denke, dass er es nicht ernst meinen wird. Nicht dieser gewitzt-gewandte Bayer, ein genialer musikalischer Kopf, der Laienchören noch jedes fremde Stück beibringt, von Bachs „h-Moll-Messe“ bis Queen. Hatte er nicht jüngst die Chor-Debatte über angebliche kulturelle Aneignung unserer „Porgy und Bess“-Aufführung mit ausladender Gelassenheit abgewendet? Na, also.
Ich kann unmöglich auch noch auf meinen Chor verzichten. Ich habe Amtsschreiben entsorgt, Unterhaltungen verlassen, Podcasts abbestellt und Sendungen aussortiert, weil ich die Genderstolper-Sprache nicht ertrage. Ich arbeite ein Leben lang mit Sprache, sie ist mein Werkzeug. Als Redakteurin habe ich über Jahrzehnte Tausende Texte redigiert, also verständlicher und lesbarer gemacht.
Jetzt höre ich, dass Stolperer in der Sprache gerade gewollt sind, um auf die Existenz von Frauen und anderen Identitäten aufmerksam zu machen. Aufmerksam! Plötzlich sollen Geschlechter extra hervorgehoben werden, was die gesamte Sprache sexualisiert. Und wer versteht einen Text schnell und leicht, wenn ihn Hinweise auf Männer, Frauen, Diverse sowie endlose Stolperer zerhacken?
Die Verunglimpfung der deutschen Sprache peinigt mich. Anders als mein Kollege Ingo Meyer, der für seinen grandiosen Erklärtext über die Katastrophen der Gendersprache in der Berliner Zeitung im vergangenen Jahr den Theodor-Wolff-Preis bekam und seine Beweisführung mit Gelassenheit aufblättert, rege ich mich auf. Selbst Ironie gelingt da kaum. In der Sache aber pflegen wir Konsens. Kritiker der Gendersprache sind sich einig, denn es geht hier nicht um Meinungen, sondern – Achtung – um Fakten. Sie liegen alle auf dem Tisch, nur Gender-Apologeten ignorieren sie wie Trump sein letztes Wahlergebnis: Es gibt keine haltbaren Gründe für den Gebrauch der Gendersprache. Keine, die nicht widerlegt worden wären.
Alles fußt auf der in den 1980ern aufgetauchten feministischen Behauptung, die deutsche Sprache sei männlich geprägt und daher diskriminierend. Bei Formulierungen wie „Leser lehnen Bevormundung ab“ oder „Berliner lieben Musik“ würden in den Köpfen der meisten Menschen nur ablehnende oder liebende Männer auftauchen, Frauen aber nicht. Die seien im Plural immer nur „mitgemeint“.
Seither ist zunehmend von Lesern und Leserinnen die Rede, oder eben von Leser:innen, Soldat:innen, Dieb:innen, Jüd:innen. Frauen verlangten angeblich mehr „Sichtbarkeit“. Dass Männer in Konstruktionen wie Chirurg:innen tatsächlich „geschlechterungerecht“ verschwinden, stört die Gender-Fraktion wohl nicht. Sind ja nur Männer, wahrscheinlich noch alt und weiß, haben sie es besser verdient?
Dafür sollen durch Doppelpunkt oder Stern auch andere Identitätsgruppen mitgemeint sein – das haben sich Gender-Aktivisten ausgedacht. Sie unterstellen der organisch gewachsenen deutschen Sprache, Kollektive von Männern hätten sich über Jahrhunderte zusammengerottet, um Frauen mit dem generischen Maskulinum auch sprachlich zu unterdrücken. Und heute endlich ist die Gesellschaft aufgeklärt genug, diese kranke, reparaturbedürftige deutsche Sprache zu „heilen“?
Gender-Aktivisten führen zwischen zwölf und 20 Studien und Tests an, die die Diskriminierung beweisen sollen. Sprachwissenschaftler und Germanisten haben die untersucht und ad absurdum geführt: keine wissenschaftlichen Standards, unrealistische Laborsituationen ohne sprachlichen Kontext, Verwendung von nur drei bis zwölf Wörtern, falscher Gebrauch des generischen Maskulinums, Tests mit nur 20 Teilnehmern oder ausschließlich mit Studentinnen. Viele dieser Studien sind in dem in der Berliner Zeitung erschienen Text „Nein, die deutsche Sprache diskriminiert Frauen nicht“ verlinkt.
Gender-Aktivisten ignorieren den Unterschied zwischen biologischem und grammatischem Geschlecht. Aber „die Führungskraft“ ist nicht weiblich, „das Staatsoberhaupt“ nicht sächlich, „der Mensch“ nicht männlich. Für alle gibt es im Plural das geschlechterübergreifende (generische) Maskulinum. Auch die Annahme, Menschen würden bei Berufs- oder Personengruppen ständig Bilder im Kopf produzieren, ist nicht belegt. Selbst wenn – wem erscheinen bei dem Satz „Sudanesen sehnen sich nach Frieden“ nur Bilder von Männern? Nicht mal den Test-Personen.
Pro-Gender-Studienergebnisse wurden laut Untersuchungen auch noch verzerrt oder falsch zusammengefasst und fragwürdig interpretiert. Denn eigentlich fiel die Tendenz zur männlichen Lesart beim Gebrauch der Gendersprache nur gering aus, oft kaum messbar. Erwartbarer Nebeneffekt: Wörter mit Sprechpausen führten dazu, dass Polizist:innen für Frauen gehalten wurden.
Zitiert wird immer wieder derselbe strittige Test: Nenne drei Schauspieler – und es folgen Männernamen. Was sonst – wenn nicht nach drei Schauspielerinnen gefragt wird. Sprache verlangt Kontext, mitunter Präzision. In einer Studie mit gängigen Zeitungssätzen interpretierten die Probanden Pluralformen wie Schüler, Mieter, Leser zu 99 Prozent geschlechtsneutral, Berufsbezeichnungen wie Ärzte, Apotheker, Politiker zu 94 Prozent.
Der letztgenannte Test stammt aus dem Jahr 2012. Indessen hat der aggressive Einsatz der Gendersprache stark zugenommen. Mitarbeiter öffentlich-rechtlicher Sender sind dazu angehalten. Berliner Schulen dürfen nach Belieben gendern, dabei Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung missachten, was Sprachwissenschaftler streng kritisieren.
Längst denken viele junge Menschen wohl tatsächlich, die Wendung „Einwohnerinnen und Einwohner“ sei nicht für wertschätzende Anreden reserviert, sondern gehöre siebenundzwanzig Mal in eine Rede, weil die nur so diskriminierungsfrei ausfallen könne. Sprachungetüme wie „bergsteigende Personen“, „Freund:innenschaft“ oder „Patient:innenanwält:innen“ müsse man wegen der „Gerechtigkeit“ eben hinnehmen. Und wenn die „Tagesschau“ in einer Nachricht über ein Familiengesetz das Wort „Mutter“ durch „gebärende Person“ ersetzt, dann wird wohl mit dem Begriff „Mutter“ etwas nicht stimmen. Aber gut, das ist schon die nächste Ausblühung der Geschlechterkontroversen.
Im vergangenen Jahr kritisierten angesehene Sprach- und Literaturwissenschaftler die im öffentlich-rechtlichen Rundfunk um sich greifende Gendersprache. Professoren wie Peter Eisenberg, Franz Rainer, Martin Neef, Gisela Zifonun, Heide Wegener, Claus Peter Zoller verlangten, die Gender-Praxis auf eine wissenschaftliche Grundlage zu heben. Den Aufruf haben bislang 663 Sprach- und Literaturwissenschaftler sowie Tausende weitere Kritiker der Gendersprache unterzeichnet.
Die Öffentlich-Rechtlichen reagierten auf die Aufforderung nicht mit einer Untersuchung, sondern im Gegenteil mit Ignoranz, Selbstgerechtigkeit und Hohn. Der ehemalige ZDF-Moderator Claus Kleber spricht von „verknöcherten Deutschlehrern“ und feindet die Wissenschaftler in einer Sendung als „Sprachpolizei“ an. Natürlich in dem Wissen, dass sich genau umgekehrt die Gender-Aktivisten durch Verändern, Stolpern und Aufblähen längst als Sprachpolizisten etabliert haben.
Klebers frühere Kollegin Petra Gerster erklärte dem Fernsehvolk im ZDF, die meist älteren Gender-Gegner hätten Angst vor einer multikulturellen Gesellschaft, in der mehr Frauen mitredeten. Sender geben bekannt, man dürfe Menschen nicht durch unsensible – also nicht gegenderte – Sprache diskriminieren und beleidigen.
Aha, es geht also nicht um die besten Argumente für eine gute Sprache, sondern um Moral und Gefühle. Da kann ich mitreden. Denn ich fühle mich durch die Gender-Sprache diskriminiert und beleidigt. Die Erfinder unterstellen mir, dass ich mein Leben lang so dumm war, nicht zu bemerken, dass ich eine ungerechte männliche Sprache nutze, die mich als Frau nicht „sieht“. Dass ich bis heute unsensibel und diskriminierend schreibe, weil ich Konstruktionen wie „zu Fuß Gehende“ und „Lokfahrende“ ablehne. Links-grüne Gender-Aktivisten verstehen die Sprache als Ausdruck ihrer Gesinnung, wollen sich damit ideologisch und moralisch positionieren. Sie halten das für woke, modern, jung, aufgeklärt, gerecht und aufmerksam. Gender-Gegner dagegen werden rechts einsortiert.
Menschen sollen in ihren Blasen reden, wie sie wollen. Übergriffig aber wird der Vorgang, wenn die Gender-Praxis in Schulen Unklarheit stiftet und dem Fernsehzuschauer aufgezwungen wird, wenn sie sich bewusst über das „gemeine“ Volk erhebt.
Ich bin mit meiner Empörung kein Einzelfall, sondern Teil der übergroßen Mehrheit der Gesellschaft. Wir Gender-Gegner machen zwei Drittel bis drei Viertel der Gebührenzahler aus. Wir kommen für die außertariflichen Gehälter und gewaltigen Pensionen der Fernsehgesichter und Senderleitungen auf, selbst für ihre Millionen-Skandale. Aber der künstlich generierten Stolper-Sprache und ihrer Dauerbelehrung im Öffentlich-Rechtlichen können wir nicht entkommen. Die Sender, Verwaltungen und Universitäten tragen mitnichten einer allmählichen Veränderung der Sprache Rechnung, wie sie sich seit Jahrhunderten entwickelt, sondern folgen institutionellen Leitlinien, die sie selbst herausgeben, wissenschaftlich unhaltbar. Welcher Student bei Trost würde heute noch eine nicht gegenderte Arbeit abgeben, wenn seine Uni vorher klare Empfehlungen dafür ausspricht?
Gendern sensibilisiert nicht, es spaltet die deutsche Sprachgemeinschaft. So nachdrücklich, wie es der DDR in 40 Jahren nicht gelungen ist. Damals hat die Bevölkerung das Phrasendeutsch kalt ignoriert. Heute regt das Thema Sprache zunehmend auf. Das zeigen die Post-Berge, die in Redaktionen nach Texten über Gender-Themen eingehen. Oder auch die Reaktionen auf den großartigen Briefroman von Juli Zeh und Simon Urban „Zwischen Welten“, in dem eine Brandenburger Bäuerin und ein etablierter Hamburger Kulturjournalist korrespondieren. Sein Part ist „durchgegendert“ bis an die Schmerzgrenze und zeigt so die absurden Auswüchse dieser Sprache auf. Leser und Hörer stöhnten auf, manche haben die Lektüre wegen der Genderparts als unerträglich abgebrochen.
Und wohin führt dieser Kulturkampf, in dem ein Volk zu mehr „Sprachgerechtigkeit“ umerzogen werden soll und nicht will? Wo sind die Studien dazu? Die Öffentlich-Rechtlichen lassen die Forderung locker an sich abtropfen. Aber sollten sich bei dieser Sprachrevolution von oben nicht ein paar der 200 Gender-Professoren in Deutschland und 40 Koordinierungsstellen für Gender-Studien für eine Harmonisierung des Sprachstreits einsetzen, um nicht zur weiteren gesellschaftlichen Spaltung beizutragen? Es kann doch nicht nur um das Umschreiben alter Kinderbücher gehen und die Frage, ob man menstruierende Personen weiter Frauen nennen darf.
Unser Chorleiter spricht übrigens wieder wie früher, er wollte nur mal testen, wie das so klingt, haha, mit Sprechpausen. Aber für die Zukunft schließe er nichts aus. Seine Kinder, sagt er, halten das Gendern schon für normal. Die Mehrheit der Sprachgemeinschaft aber dürfte überzeugt sein, dass es sich um eine vorübergehende Mode handelt.
Berliner Zeitung (online), 12.05.2023. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.
Schlagwörter: Birgit Walter, Gender-Terror, öffentlich-rechtliche Medien, Sprache