Was ist der Kapitalismus? Und was wäre eine Alternative? – Das sind die Hauptfragen, die Nancy Fraser in ihrem neuen Buch „Der Allesfresser“ behandelt. Sie beantwortet beide Fragen auf ihre Weise: politisch, feministisch, metaphorisch und äußerst zugespitzt. Den Ausgangspunkt dafür bildet ihr Verständnis der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung als „kannibalischer Kapitalismus“, als ein Regime, das nichts anderes mehr vorstellt als „eine institutionalisierte Fressorgie, deren Hauptgericht wir selbst sind“. Sie knüpft hier, freilich ohne dies kenntlich zu machen, bei Karl Marx an, der in seinem Werk „Das Kapital“ schrieb, dass „die kapitalistische Produktion […] nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (entwickelt), indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“. Im Unterschied zu Marx, der ökonomisch argumentiert und deshalb nicht vom „Kapitalismus“, sondern von „kapitalistischer Produktion“ spricht, bezieht Fraser ihren Kapitalismus-Begriff ausdrücklich „nicht auf eine Wirtschafts-, sondern auf eine Gesellschaftsform“. Sie schreibt: „Der Kapitalismus ist keine Ökonomie, sondern ein Gesellschaftstypus […]“ und glaubt damit, über Marx hinaus zu gehen.
Die Autorin meint, indem sie eine „erweiterte Konzeption von Kapitalismus“ vertritt, sich von Marx und dessen vermeintlichem „Ökonomismus“ abzuheben und dadurch ihr emanzipatorisches Projekt einer ökologisch-gesellschaftlichen Transformation besser fundieren zu können, um es politisch voranzubringen. Dies erscheint jedoch zweifelhaft. Denn so richtig es ist, die Kapitalismuskritik heute nicht nur ökonomisch, sondern gesamtgesellschaftlich zu formulieren, so fragwürdig erscheint es, dies gegen die Ökonomie zu tun. Was die Autorin als „Kapitalismus“ bezeichnet, ist bei Marx die „moderne bürgerliche Gesellschaft“. Diese aber begriff er, ebenso wie nach ihm Max Weber, durchaus als eine „Wirtschaftsgesellschaft“, was impliziert, dass ihre wesentliche Grundlage die „kapitalistische Produktionsweise“ ist. Das Fehlen dieser Termini und ihre Ersetzung durch einen überökonomischen Kapitalismusbergriff, die Fassung des Kapitalismus als „etwas Größeres als eine Ökonomie“, markiert die Differenz zwischen Fraser und Marx und macht die Originalität des hier vertretenen Ansatzes aus.
Die kapitalistische Gesellschaft existiert historisch in diversen Akkumulationsregimen: als Handelskapitalismus, liberal-kolonialer Kapitalismus, staatlich gelenkter Kapitalismus und Finanz- oder Finanzmarktkapitalismus. Die Analyse im Buch konzentriert sich auf letzteres Regime. Dabei werden insbesondere jene Aspekte herausgearbeitet, die in früheren Analysen nicht als ursächlich für die Herrschaft des Kapitals angesehen wurden oder die bislang zu wenig Beachtung fanden. So Fragen der sozialen Reproduktion, der Ökologie, des Politischen, Genderaspekte und anderes mehr. Eine der eingängigsten Formeln Frasers lautet „Exploitation plus Expropriation“. Sie will damit zeigen, dass die ökonomische Ausbeutung der Arbeitskraft allein nicht zu erklären vermag, wie Kapitalverwertung heute funktioniert. Die fortgesetzte Enteignung unterdrückter und rassifizierter Bevölkerungsgruppen muss mitgedacht werden, denn sie gehört zu den strukturierenden Elementen des Kapitalismus. Die Expropriation als (ökonomische) Akkumulation und als (politische) Unterwerfung bilden sichtbare, aber bisher wenig wahrgenommene Aspekte der Kapitalreproduktion. „Durch die Universalisierung der Prekarität beutet der Finanzmarktkapitalismus so gut wie jede und jeden aus und enteignet ihn bzw. sie.“
Die Betrachtung des Kapitalismus als institutionalisierte Gesellschaftsordnung soll dabei helfen, besser zu begreifen, dass es falsch ist, die Natur, das Gemeinwesen oder die Peripherie „als etwas ‚außerhalb‘ des Kapitalismus Stehendes“ zu betrachten. Die Autorin kritisiert ein derartiges Denken als „romantische Sichtweise“. Diese Art von Romantik aber ist in antikapitalistischen Kreisen und bei linken Aktivisten weit verbreitet, so zum Beispiel bei den Befürwortern „pluraler“, „Postwachstums-“, „solidarischer“ und „Subsistenz“-Ökonomien, bei Kulturfeministinnen, Tiefenökologen, Dekolonialisierungs-, Commonings-, Neo-Kommunalismus- und anderen Aktivisten. Die Autorin wendet sich gegen die heute unter Linken und Alternativen populären Formen „sozialpolitischer Basteleien“ und setzt dem entgegen, dass die Lösung der heutigen Probleme nur über „eine tiefgreifende strukturelle Transformation“ möglich sei.
So deutlich wie ihre Kritik an der gegenwärtigen Gesellschaft formuliert ist, so wenig klar sind die Vorstellungen der Autorin über die Konturen der künftigen Gesellschaft. Wie soll die Alternative aussehen? Soll es ein reformierter Kapitalismus sein, ein neuer Sozialismus oder der Kommunismus? Erstere Alternative lehnt sie vehement ab. Letztere ebenfalls, zumal sie den sowjetischen Sozialismus übereinstimmend mit dem Mainstream der US-Ideologie als „real existierenden Kommunismus“ auffasst. Es bleibt als Alternative also nur ein neuer Sozialismus. Gegen Ende des Buches kommt die Autorin dann auch darauf zu sprechen, indem sie sich für die Etablierung einer Gesellschaftsordnung ausspricht, die sich einerseits vom „Kommunismus sowjetischer Prägung“ und andererseits von der „sozialen Demokratie“ (was immer das sein soll) deutlich unterscheidet: der „Sozialismus für das 21. Jahrhundert“. Mit diesem Sozialismusprojekt wird der Anspruch verbunden, „die Übel des Kapitalismus zu beseitigen“, also nicht nur die Klassengegensätze aufzuheben, sondern auch „die Asymmetrien zwischen den Geschlechtern, die rassistische/ethnische/imperialistische Unterdrückung und die politische Herrschaft in den unterschiedlichsten Bereichen“. Nachfolgend werden drei Überlegungen für den „Sozialismus für das 21. Jahrhundert“ angeführt, die vor allem das Denken betreffen: Erstens die Überwindung institutioneller Grenzen, zweitens die Neuregelung des Umgangs mit dem „gesellschaftlichen Überschuss“ (Mehrprodukt) und drittens die Definition der „Rolle der Märkte in einer sozialistischen Gesellschaft“. Ob dies ausreicht, den Sozialismus zu einer echten Alternative zum Kapitalismus zu entwickeln, soll dahingestellt bleiben. Zumindest aber ist es eine Aufforderung, über das gegenwärtige System hinauszudenken.
Nancy Fraser: Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt, Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 282 Seiten, 20,00 Euro.
Schlagwörter: Gesellschaft, Kapitalismuskritik, Nancy Fraser, Ulrich Busch