26. Jahrgang | Nummer 11 | 22. Mai 2023

Adam Smith und die „unsichtbare Hand“

von Jürgen Leibiger

Wollte man eine Rangliste der bedeutendsten Ökonomen aller Zeiten aufstellen, müsste Adam Smith, der dieser Tage vor 300 Jahren in Schottland geboren wurde, zusammen mit zwei, drei anderen ganz oben stehen. Obwohl er schon mit seiner „Theorie der ethischen Gefühle“ von 1759 Erfolg hatte, war das nichts im Vergleich zu dem Ruhm, den er 1776 mit seinem Bestseller „Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen“ erntete. Er hatte den Nerv seiner Zeit getroffen. Was Kant, Voltaire oder Rousseau für die Philosophie der Aufklärung bedeuten, ist Smith für die ökonomische Aufklärung.

Einer der größten Denker jener Zeit, David Hume, war sein bester Freund. Hume hatte die Arbeit von Smith an seinem ökonomischen Werk über Jahre hinweg verfolgt und ihn gedrängt, es fertigzustellen. Als es dann nur wenige Monate vor seinem Tod endlich erschien, gehörte er zu den Ersten, die ihm gratulierten: „Gut gemacht! Wunderbar!“ In seinem Testament vermachte er ihm eine schöne Summe Geldes und setzte ihn als Verwalter eines Teils seines literarischen Nachlasses ein. So richtig kam Smith diesem Wunsch nicht nach, denn von nun an hatte er, der sich über mehrere Jahre in seinen Geburtsort Kirkcaldy zurückgezogen hatte, um an dem Buch zu arbeiten, keine Ruhe mehr. Vorträge, Besuche, akademische Gesellschaften, Neuauflagen – allein sechs hat er bis zu seinem Tod 1790 noch bearbeitet – die Betreuung von Übersetzungen und Bitten um Gutachten für die Regierung bestimmten von nun an sein Leben. Die erste Übersetzung überhaupt erfolgte ins Deutsche; sie wurde schon 1776 von Johann Schiller, einem Verwandten des Dichters und Londoner Agent des Leipziger Verlags Weidmanns Erben und Reich, besorgt. Smith, der die Zeit während der Drucklegung seines Werks in London verbracht hatte und mit dem dort lebenden Schiller bekannt war, bat diesen, ihm alle Reaktionen und Kritiken des deutschen Publikums mitzuteilen. Er hatte auch deshalb wenig Muße, weil er 1778 in Edinburgh das Amt des Zollkommissars von Schottland übernahm. Hier konnte er erleben, wie seine Freihandelstheorie praktisch wirkte. Der Nettoertrag seines Amtes stieg beträchtlich an, weil die Senkung der Zollsätze den Handel belebte, der Schmuggel sich nicht mehr lohnte und die Kosten zu dessen Bekämpfung – die er durchaus rigoros betrieben haben soll – stark zurückgingen.

Sein Ruf als Star-Ökonom ging weit über die Fachwelt hinaus. Dass in der Bibliothek des Weimarer Finanzministers Goethe eine Übersetzung von Smith stand, versteht sich fast von selbst. Von Napoleons Hand existiert ein Autograph von 1791 mit Notizen zur französischen Übersetzung und im fernen Russland ließ Puschkin seinen Eugen Onegin sich über Smiths politische Ökonomie regelrecht begeistern. Smith hat das Handeln mehrerer Premierminister seiner späten Jahre beeinflusst. Einer von ihnen, William Pitt der Jüngere, würdigte den Autoren „der gefeierten Abhandlung über den Reichtum der Nationen“ mit den Worten, dieser habe „die besten Lösungen zu all jenen Fragen geliefert, die mit der Geschichte des Handels und dem System der politischen Ökonomie verbunden“ seien. Auch der preußische Reformer und Staatskanzler Freiherr von Stein war von ihm inspiriert. Fast alles ökonomische Denken ging nun von Smith aus. Egal, ob Anhänger oder Kritiker, ob konservativ oder progressiv, ob Sozialist und Marxist, Neoklassiker oder Keynesianer, sie alle stehen auf seinen Schultern.

Was macht dieses Werk so bedeutend, ja populär? Sein Liberalismus entsprach den Forderungen seiner Zeit und der lebendige, erzählerische Stil mag manchmal ausufernd sein, macht das Studium jedoch auch unterhaltsam. Er schreibt über eine breite Vielfalt ökonomischer Fragen und schuf außer der Kreislauftheorie jenen Kanon, der fortan den Inhalt der Volkswirtschaftslehre prägen sollte. Die zeitgenössischen Denkrichtungen, Merkantilismus und Physiokratismus, mit denen er sich auseinandersetzte, kannte er nicht nur aus Büchern. Wichtige Vertreter seines Faches wie Turgot oder Quesnay und Politiker wie Necker oder Franklin hatte er neben den großen Philosophen während eines Frankreichaufenthalts Anfang 1764 bis Ende 1766 persönlich kennengelernt.

Anders als die Merkantilisten stellte er die Arbeit und die Arbeitsteilung an den Anfang und in den Mittelpunkt seiner Theorie. Der Reichtum der Nationen basiere nicht primär auf dem Handel und entstehe auch nicht nur in der Landwirtschaft, es sei vielmehr die produktive Arbeit schlechthin, die den Wert schaffe und die Basis für die Akkumulation von Kapital und Reichtum bilde. Er unterschied den Wert, den „natürlichen“ Preis, vom Marktpreis der Waren. Er verband die Theorie der Einkommensverteilung mit der Klassentheorie: Lohn, Profit und Grundrente bildeten die Einkommen der „drei großen ursprünglichen Klassen jeder zivilisierten Gesellschaft“, von denen sich die Einkommen aller anderen Klassen ableiteten. Wichtige Gegenstände des zwei Bände umfassenden Werks sind das Geld und der Außenhandel. Ausführlich befasste er sich mit den Aufgaben des Staates und dessen Finanzierung mittels Steuern und Zöllen. Das letzte Kapitel ist den Staatsschulden, einem der Hauptprobleme seiner Zeit, gewidmet. Seine theoretischen Erklärungen zielen fast immer auf die praktische Umsetzung in der Wirtschaftspolitik. Manche Überlegungen sind widersprüchlich, unvollkommen oder fehlerhaft und hatten in der weiteren Geschichte der politischen Ökonomie keinen Bestand, aber immer beruhen sie auf scharfen Beobachtungen, sind gedankenreich und anregend. 

Heute kennen fast alle halbwegs Gebildeten die Formulierung von der „unsichtbaren Hand“. Jeder würde durch sie „geleitet, einen Endzweck zu fördern, der keinen Teil seiner Zielstellung ausgemacht hatte […] Indem er sein Interesse verfolgt, fördert er häufig jenes der Gesellschaft wirksamer, als wenn er dessen Förderung wirklich beabsichtigt.“ Mit solchen Äußerungen über die Vorteile egoistischen Handelns wurde Smith zum Vater des klassischen ökonomischen Liberalismus. Aber er war keineswegs so marktradikal, wie das oft hingestellt wird; er beschränkt das positive Wirken besagter Hand auf gewisse Fälle. Dem Staat weist er durchaus gewichtige Aufgaben zu. Und sein Bewunderer Pitt d. J., mit dem der Beginn der klassisch-liberalen Ära britischer Wirtschaftspolitik verbunden wird, bevorzugte einen durchaus aktiven Staat. Aber diese Formulierung ist wie seine Theorie von der Bedeutung der Arbeit eine fundamentale Kritik feudalistischer Verhältnisse und Anschauungen und einer die Gewerbefreiheit beschränkenden Politik. Er hat sie auch nicht erst in seinem Hauptwerk „erfunden“. Indem er die progressive Rolle eines vorgeblich mit der „Natur des Menschen“ verbundenen Profitstrebens beschreibt, ist er trotz seines durchaus kritischen Blicks auf das Verhalten der Kapitalisten Sprachrohr bourgeoiser Interessen. Als Professor für Moralphilosophie in der aufstrebenden Handels- und Industriemetropole Glasgow war er Mitglied eines ökonomischen Klubs, in dem auch die Kaufleute und Manufakturbesitzer der Stadt über Geschäfte kungelten und Meinungen austauschten. Von ihnen habe er viel gelernt, bekannte er später. In einem Papier, das er 1755 präsentierte, sprach er ihnen aus dem Herzen, als er verkündete, dass für ein Wachsen des Wohlstands wenig mehr erforderlich sei als „Frieden, leichte Steuern und eine tolerante Handhabung des Rechts.“ Alles übrige werde durch den „natürlichen Lauf der Dinge“ herbeigeführt. Der Staat habe jene Bedingungen zu schaffen, damit die „unsichtbare Hand“ wirken könne. Er verstand darunter keineswegs die Hand Gottes, sondern etwas, was heute als ein unabhängig vom Wollen der Individuen wirkendes „ökonomisches Gesetz“ bezeichnet werden würde.

Die Wirksamkeit jener „Hand“ und die Befürwortung des Freihandels waren für ihn zwar ewige Wahrheiten, tatsächlich jedoch sind sie immer zeit- und situationsgebunden. Smith fand deshalb auch nicht überall ungeteilte Zustimmung. In den 1776 gegründeten Vereinigten Staaten, in denen heute einige der radikalsten Befürworter „freier Märkte“ sich auf ihn berufen, stieß er damals nicht nur auf Begeisterung. Am Anfang des Aufstiegs der USA stand auch Alexander Hamilton, der Smith gelesen hatte und ab 1789 der erste Finanzminister der USA war. Er konzipierte eine aktive und protektionistische Industriepolitik in erklärter Opposition zu Smith. Die USA waren das ganze 19. Jahrhundert hindurch eines der am stärksten durch Zölle geschützten Länder, und das Pro-Kopf-Einkommen wuchs rascher als in Großbritannien. Friedrich List, der die deutsche Schutzzolltheorie im 19. Jahrhundert begründete, berief sich bei seinen Forderungen – Zollfreiheit im Inneren, Erziehungszölle nach Außen – trotz aller Hochachtung für Smith auf Alexander Hamilton.