Es gehörte bisher zu den Erwartungen der Menschen in den westlichen Ländern, dass die USA als handlungsfähige Führungsmacht für die Sicherung der Freiheit zur Verfügung stehen würde. Doch sollte man ungeachtet des Zusammenbruchs der Sowjetunion vor mehr als drei Jahrzehnten nicht verkennen, dass die Geschichte nicht geradlinig verläuft und auch ein machtvoller Staat wie die USA seine Position im internationalen System wieder verlieren kann. Der Wiederaufstieg Russlands und die phänomenale Entwicklung Chinas zur Weltmacht unterstreichen eindrucksvoll, welche Dynamik im internationalen System vorhanden ist.
Vor dem Hintergrund der realen Machtverhältnisse im aktuellen Konflikt um die Ukraine und der weltweiten Korrelation der Kräfte kann es keineswegs als sicher gelten, dass der seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums im Herbst 1991 betriebene Versuch der USA, die Ukraine aus dem Einflussbereich Russlands herauszuholen und in die NATO einzugliedern, gelingen wird. Die aktuelle militärische und politische Unterstützung der Ukraine könnte sich am Ende trotz großer Anstrengungen in eine Reihe von Engagements einfügen, die für die westliche Führungsmacht USA nicht erfolgreich ausgegangen sind. Von der verheerenden Niederlage im Vietnam-Krieg, dem Scheitern des Versuchs, nach der völkerrechtswidrigen militärischen Intervention im Irak dort ein pro-westliches politisches System zu einzurichten, den fragwürdigen Ergebnissen des völkerrechtswidrigen Jugoslawien-Krieges, den gescheiterten Bemühungen, durch die Unterstützung der Gegner des Lukaschenko-Regimes in Belarus dieses Land dem russischen Einflussbereich zu entziehen, dem Fehlschlag der über mehr als drei Jahrzehnte unternommenen Anstrengungen, Russland durch die nachhaltige Unterstützung von einzelnen „Aktivisten“ und einigen Nichtregierungsorganisationen zu destabilisieren und in ein westlich bestimmtes politisches System umzuwandeln, bis zur Niederlage in dem mehr als zwanzigjährigen Afghanistan-Krieg haben wir es mit einer Entwicklung zu tun, die noch der wissenschaftlichen Analyse bedarf. Darüber hinaus zeigt uns das derzeitige Ringen um die politische Zuordnung der Ukraine, welche problematischen Folgen die Unterstützung amerikanischer Machtpolitik für die Länder der Europäischen Union haben kann.
Ein weiterer Misserfolg in dem Ringen um Macht würde die USA sehr viel nachhaltiger treffen als die jüngsten Niederlagen in Afghanistan und anderen Regionen der Welt. Wir können schon heute beobachten, in welcher Weise die gravierenden Fehlschläge der USA in der Außen- und Sicherheitspolitik die gesellschaftlichen und politischen Spannungen in diesem Lande erheblich verschärfen. Hier sind es nicht nur die katastrophalen Verhältnisse im sozialen Bereich, die im politischen System der USA zu Buche schlagen und die gesellschaftlichen Verhältnisse prägen. Auch die extrem unterschiedlichen Auffassungen und Bestrebungen im Bereich der religiösen Überzeugungen, in dem Kulturkampf um das Abtreibungsrecht und mit Blick auf die starken Spannungen zwischen dem schwarzen und dem weißen Bevölkerungsanteil kennzeichnen die aktuelle politische Entwicklung in den USA. Hinzu kommen die zunehmenden Konflikte um die illegale Zuwanderung großer Menschengruppen, für deren Regelung es bislang keine praktikable und annehmbare Vorgehensweise gibt. Zudem ist mit Blick auf das politische Denken und Handeln in jüngster Zeit eine deutliche Radikalisierung der politischen Positionen verschiedener Gruppen und politischer Parteien charakteristisch. Die Vorgänge bei der Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021 nach der von Donald Trump im November 2020 verlorenen Präsidentenwahl sowie die in der Partei der Republikaner weit verbreiteten Zweifel an der Richtigkeit des Wahlergebnisses haben ein Gefühl der Unversöhnlichkeit aufkommen lassen, das die künftigen politischen Auseinandersetzungen beherrschen wird.
Vor dem Hintergrund der schlechten Aussichten der USA in dem Ringen um Macht im internationalen System deuten alle Anzeichen darauf hin, dass die tiefgreifenden Konflikte in der Gesellschaft der USA in nächster Zukunft noch erheblich an Schärfe zunehmen werden. Angesichts der wachsenden Stärke Chinas und der politischen Durchsetzungskraft Russlands sowie der damit verbundenen Sammlung der anti-amerikanischen Kräfte im internationalen System dürften die Schwächen der USA und ihrer Partnerländer immer deutlicher hervortreten und die innenpolitischen Verhältnisse belasten. Wir müssen also damit rechnen, dass sich die seit der Niederlage von Donald Trump bei der Präsidentenwahl in den USA im November 2020 feststellbare Radikalisierung der politischen Positionen und Vorgehensweisen in den USA fortsetzt. Zwar hat die Partei der Republikaner bei der Wahl zum US-Repräsentantenhaus am 8. November 2022 mit 222 von 435 Abgeordneten nur eine knappe Mehrheit gewonnen. Doch ist dies gleichwohl bedeutsam, da dieses Gremium das Haushaltsrecht besitzt und bereits dem derzeit amtierenden Präsidenten Joe Biden aus den Reihen der Demokraten in den letzten zwei Jahren seiner vierjährigen Amtszeit das politische Handeln schwer machen kann. Jeder Dollar, den die Demokraten ausgeben wollen, muss die Zustimmung der Republikaner im US-Repräsentantenhaus erhalten. Darüber hinaus bestimmt die stärkste Partei im US-Repräsentantenhaus die Tagesordnung von Plenum und Ausschüssen. Zudem wird die Partei der Republikaner sämtliche Ausschussvorsitzenden stellen. Es würde im Zuge des Kampfes um die Macht im Lande und die sicherheitspolitische Ausrichtung der USA nicht überraschen, wenn die Republikaner mit der Einrichtung von Untersuchungsausschüssen den Demokraten und deren Präsidenten das Leben schwer machten
Die Vorgänge bei der Wahl des Sprechers im US-Repräsentantenhaus deuten bereits darauf hin, dass die radikalen Kräfte in der Partei der Republikaner alles versuchen werden, um sich durchzusetzen. Die Tatsache, dass es dem republikanischen Politiker Kevin McCarthy nach erbittert geführten Auseinandersetzungen und zahlreichen tiefgreifenden Zugeständnissen an die Trump-Anhänger in seiner Partei erst im 15. Wahlgang gelang, zum Sprecher des US-Repräsentantenhauses und damit zum drittmächtigsten Funktionsträger der USA gewählt zu werden, weist darauf hin, wie stark die radikalen Kräfte in der Partei der Republikaner sind. So wird künftig eine Stimme reichen, um ein Misstrauensvotum gegen den Sprecher auf den Weg zu bringen. Auch die Zusage an die Trump-Anhänger, zwei von neun Mitgliedern im einflussreichen Rules Committee bestimmen zu dürfen, ist in diesem Kontext bedeutsam, da jeder Gesetzentwurf durch die Hände der Abgeordneten in diesem Ausschuss geht. Überdies sagte Kevin McCarthy zu, über Amtszeitbeschränkungen für Abgeordnete und spezifische Gesetze zur Grenzpolitik abstimmen zu lassen. Der Einfluss der radikalen Trump-Anhänger auf die Position der republikanischen Partei in vielen umstrittenen Fragen dürfte die innenpolitische Auseinandersetzung in den USA künftig prägen und dem früheren Präsidenten Donald Trump reichlich Gelegenheit bieten, seine Auffassungen und Bestrebungen zur Geltung zu bringen. Dabei wird das entschlossene Engagement rechtskonservativer Medien eine wichtige Rolle spielen und Donald Trump sowie dessen radikalen Gesinnungsgenossen zugutekommen. Dies wird nicht nur die innenpolitischen Auseinandersetzungen etwa um die Sicherung der Grenzen gegen jährlich mehrere Millionen illegaler Migranten, den Kulturkampf um das Abtreibungsrecht oder den ohnehin schon stark ausgeprägten Rassismus einmal mehr vertiefen und die innere Zerrissenheit der Gesellschaft in den USA deutlicher hervortreten lassen.
Auch das weltweite außen- und sicherheitspolitische Engagement der USA wird von dieser prekären Entwicklung nicht unberührt bleiben. Vor dem Hintergrund der inneren Zerrissenheit und Spaltung der Gesellschaft, dem globalen Machtstreben Chinas und dem rigorosen militärischen Vorgehen Russlands im Kampf um die Zuordnung der Ukraine erfolgreich Paroli zu bieten, wird für die um ihre politische Identität ringenden USA kaum noch für längere Zeit möglich sein. Dies deutet sich bereits in den aktuellen innenpolitischen Auseinandersetzungen in den USA an. Nach dem durchaus möglichen Scheitern des Engagements im Ukraine-Konflikt mit Russland werden die USA nicht nur ihre bisherige Haltung in der Taiwan-Krise mit China überdenken müssen. Die USA werden vielmehr spätestens nach den nächsten Wahlen im November 2024 gezwungen sein, ihre Außen- und Sicherheitspolitik neu zu konzipieren und auf die veränderte Lage im internationalen System zuzuschneiden.
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