26. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Oblomow“ – Renaissance Theater / „Lars Eidinger – Sein oder nicht Sein“ im Kino / „ABBA jetzt“ – Berliner Ensemble

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Renaissance: Oblomowismus kontra Tatmenschentum

Sein Mittelpunkt der Welt ist ein schäbiges Sofa. Dort lebt Ilja Iljitsch Oblomow, Mitte Dreißig, notorischer Junggeselle, nicht unsympathisches Faultier, leicht verlottert dahin. Ernährt von den schmalen Einkünften seiner Gutsbesitzerfamilie. Das ewige Rennen all der anderen „ums offene Grab“, sagt er philosophisch aufgeschäumt, das widere ihn an. Man sollte besser bei zugezogenen Vorhängen in bequemer Ruhe abwarten, bis man ohnehin hinein plumpst in die Grube.

Doch da taucht Andrej Stolz auf, alter Freund aus Jugendzeiten. Der stört das schläfrige Idyll, die Stille, den Stillstand. Und ist das aufgeregte Gegenüber vom abgeregten Oblomow; ein Unternehmer, Draufgänger, Lebemann. – „Du bist ein Teigklumpen, der auf dem Diwan klebt, musst raus aus der Gruft, musst dein Leben ändern und ab ins Abenteuer, hinein in die helle windige Welt“, sagt er.
„Ich kann das nicht“, ächzt es zurück vom Sofa. „Ich weiß doch schon, wie alles wird. Da blitzt vielleicht ein Glück, doch sofort kracht der Donner des Unglücks.“
Dieser Lethargiebatzen Oblomow – und bezeichnenderweise nicht etwa der alerte Actionkerl Stolz – ist der Titelheld des gleichnamigen Romans von Iwan Alexandrowitsch Gontscharow aus dem Jahr 1859. Oblomow ist eine klassische Couch-Potato, die unbeirrt dem Oblomowismus frönt, der jegliches Tatmenschentum mit mephistophelischem Hintersinn ablehnt: Weil alles, was entsteht, ja ohnehin zugrunde geht.

Nun haben Volodia Serre und sein Mitarbeiter André Markowicz „Oblomow“ für die Bühne adaptiert. Und Regisseur Serre hat das als deutschsprachige Erstaufführung mit einerseits ordentlichem Sinn fürs Tragikomische inszeniert. Anderseits freilich mit übertriebener Lust am Auspinseln von Nebensächlichem. Und so franst der Abend aus. Schade, dass der Rotstift ruhte. Passiert gern, wenn Regie und Script in einer Hand.

Doch das spannend Philosophische, das bleibt. Und steht und fällt mit den beiden Zentralgestalten Stolz (Felix Lüke) und Oblomow (Mathias Mosbach), die ja – der Kern des Dramas ‑ beide auf vertrackte Weise recht haben. Aber Serra steht stramm auf Seiten Stolzes, der sich mit barsch befehlender, wenig verführerischer Rhetorik abmüht, Oblomow vom Diwan zu ziehen und vergeblich hinein zu stoßen ins womöglich pralle Leben (die dazugehörigen Nebenrollen bleiben entsprechend blass).

Unser Interesse klebt derweil unverdrossen am durchtrieben altklugen Individualisten Oblomow. Balanciert doch der knuffige Mathias Mosbach ziemlich lässig zwischen winzigen Restbeständen einer vagen Sehnsucht nach handgreiflichem Schaffens-, Liebes-, Zukunftsglück sowie vehement süchtigem Surfen in transzendenten Melancholien – fürs leibliche Versorgen hat‘s das Personal. Ihm gelingt mit ja doch verführerischem Charme, garniert mit einer Prise Wehmut und einem Schuss Frechheit, ein cooler Gegenentwurf zu den abendländischen Aktivitätskommandos der Stolzes dieser Welt. Wir entwickeln Empathie. Wobei am Ende feststeht: Es bleibt – schade oder nicht? – beim immerhin genüsslich süßen Verdämmern im warmen Sofaplüsch. Bis hin ins kalte Grab.

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Kino: Pflichtfilm für jeden Theaterberliner
„Ich könnte niemals in meinen Schuhen eine Figur wie Hamlet, Richard oder Jedermann spielen“, sagt Eidinger in „Lars Eidinger – Sein oder Nicht sein“, einem Film von Reiner Holzemer, der Portrait, Werkstattbericht und Probenprotokoll zugleich ist; entstanden 2021 zu den Salzburger „Jedermann“-Proben mit L.E. in der Titelrolle.

Das Hineinschlüpfen in eine Figur funktioniert für den Bühnen-, Film- und Fernsehstar nur über den Schuh. „Ich würde sogar behaupten, wenn der Absatz ein kleines Stück kürzer ist, kann ich das schon nicht mehr spielen.“ Außenstehende mögen ungläubig staunen: diese Dünnhäutigkeit, diese Detailversessenheit. Doch ohne die – und natürlich ohne Talent! – geht nichts im so schwierigen, ernsthaften, so lustvollen aber oft eben auch qualvollen Metier der Verwandlungskunst. Hier begreift man das ganz besonders. Die komplex-komplizierte Sache hat mit dem Kopf zu tun und dem Bauch. Beides gehört zum Aufspüren einer Figur, ihres Textes sowie zur Erfindung spielerischer Momente. Vor allem das absolut freie Spiel, meint Eidinger, sei der Grund, aus dem alle Kreativität komme.

Doch ohne ein Gegenüber gehe das alles nicht. „Ich hab‘ noch nie irgendwas von dem, was ich auf der Bühne mache, zu Hause so für mich geprobt. Wenn da keiner zuguckt, weiß ich gar nicht, was ich machen soll.“

Manchmal macht er gar nichts. Guckt bloß. Da vermag allein sein Gesicht – der Film zeigt es – so ziemlich alles zu sagen: Glückseligkeit, Entrücktsein, Eiseskälte, Wut, Angst, Mitleid, Trauer – manches, wenn es sein muss, im augenblicklichen Wechsel. Faszinierend. Erschreckend.

Eidinger kann aber auch sehr viel machen. Hochleistungssport sozusagen. Körperliche Exzesse; rücksichtslos bis zur Grenze des Erträglichen. Ja, der Kerl traut sich was. Spielt mit dem lodernden Feuer der Überwältigung. Was auch irritiert, verstört, befremdet. – „Das ist mir aber tatsächlich erst spät bewusst geworden, dass das ein Wagnis ist.“

Doch er kann nicht anders. Muss an Grenzen gehen – und gelegentlich drüber. Kann nicht ohne Hingabe. Kann sich mit seiner Fantasie auf einer Bühne kurioserweise viel mehr fallen lassen, sich viel mehr öffnen als im Privaten. „Ich habe das Gefühl, dass ich im Spiel mehr ich selbst bin als im Alltag, was ein Paradox ist.“ Aber suggestiv wirkt. Und zugleich ein gewisses Quantum Rätselhaftigkeit, Unergründlichkeit in sich trägt. Wie aufregend!

Wer eine Ahnung haben will, wie diese so besondere, einzigartige ans Leibliche und Seelische gebundene Schauspielkunst entsteht und welche Kraft sie braucht (nebst einem kühlen Regisseur), der muss diesen mit Ausschnitten aus Schaubühnen-Inszenierungen sowie „Jedermann“-Proben illustrierten, hoch spannenden, tief berührenden Film sehen. Und nicht zuletzt spielt Eidinger da nicht nur. Er spricht auch. Und zwar bemerkenswert eloquent, plausibel, witzig, offen kritisch über sich und sein Handwerk. Sowie – auch das – über ins Wahnhafte wuchernde identitätspolitische Debatten. Über eine zunehmend „vergiftete Welt aus Hass und Missgunst“. Was ihn sehr belaste. Und traurig mache.

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BE: Ohrwürmer-Show
Die Begeisterung für die schwedische Popgruppe ist immergrün, also klassisch. Da ist es nur natürlich, dass auch Theaterstar Tilo Nest hingerissen wird vom Sound der globalen Ohrwürmer. So schnappte er sich den Schauspiel-Kollegen Hanno Friedrich sowie den Pianisten Alexander Paeffgen, um zu dritt im feschen Frack eine kabarettistisch grundierte, mehrfach mit Kunstpreisen gefeierte ABBA-Hommage über die Bühne zu wirbeln. Freilich nicht eins zu eins im ABBA-Look, sondern atemberaubend anverwandelt dem Herren-Dreier: Nämlich als komisch verrückter, gelegentlich auch betörend sentimentaler, immer aber artistisch gekonnter Ritt durch die verschiedensten musikalischen Genres von Madrigal bis Heavy Metal. Ein einzigartiger Genuss. Ein Bonbon der besten Laune.

Das, man staune, seit einem Vierteljahrhundert landauf, landab ans unermüdlich dankbare Publikum verabreicht wird. Bisher leider nur selten in Berlin – aber jetzt wieder anlässlich des Jubiläums „25 Jahre ABBA jetzt“ am 24. April, 20.00 Uhr, im BE, der künstlerischen Heimstatt des BE-Stars Tilo Nest.