26. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April

Selbstmord auf Rügen, einst

von Dieter Naumann

Über den besonderen Umgang mit Selbstmördern schrieb um 1540 Matthäus Normann in seinem Wendisch-Rügianischen Landgebrauch: „Wo einer sick mothwilligen vam Leven thom Dode brachte, vnd nicht vth Vnschick edder Krankheit des Hövedes schach, so moste men den doden Lichnam nicht mank andere Christen beerdigen“ [Hövt, Höved = plattdeutsch für Kopf]. Man war schließlich der Auffassung, Selbsttötung sei nicht „christlich“ und galt – wie auch der Name zum Ausdruck bringt – rechtlich als Mord.

Wie die betreffende Person bestattet wurde, war davon abhängig, wie der Selbstmord erfolgte: Hatte sich jemand im Haus erhängt, trug man ihn zum Beispiel durch ein Loch in der Wand hinaus. Damit sollte wohl verhindert werden, dass mit dem Leichnam durch die Tür hinausgetragene böse Geister auf diesem Wege wieder zurückkehren könnten. Den Strick beließ man am Hals und – wohl zur Abschreckung  – ein Ende davon drei Fuß lang aus der Erde herausschauen. Hatte sich die Person erstochen, setzte man „em einen Bohm edder Holt tho den Hoveden“ und steckte das Messer so in das Holz, dass niemand es herausziehen konnte.

Wenn sich die Person ertränkt hatte, wurde der Leichnam „vp einen Berch edder an einen Wegk“ bestattet und man „settet em drey Steine, den enen vp dat Hoevett, den anderen vp dat Lyff [Leib], den drüdden vp de Vöte [Füße]“. Von Wittow wurde berichtet, dass Selbstmörder zumeist an einem Wegekreuz bestattet wurden, um – obwohl ihre Bestattung nicht auf dem Friedhof erfolgte – dennoch das Kreuzsymbol ins Spiel bringen zu können.

Hatte sich jemand „uth Krankheit sins Hövedes“ umgebracht, wurden interessanterweise die bestraft, „de em warede edder tho waren gebörede… darmit ein yeder sins Vorplichtedes edder Fründes in solken Nöden gude Vpsicht muchte hebben“. Wer zur Pflege und Beaufsichtigung von kranken Angehörigen, Pfleglingen und Freunden verpflichtet war oder dafür bezahlt wurde, sollte dieser Verantwortung auch gerecht werden.

Victor Loebe berichtete in seinen von den Urenkeln veröffentlichten Aufzeichnungen (Chronik. Private Aufzeichnungen des Putbussers 1864 – 1916) im Mai 1895 über den Fall eines Selbstmörders, bei dem durch die Sektion festgestellt wurde, dass er sich als Folge einer „Geistesumnachtung“ umgebracht habe. Die kirchliche Bestattung wurde ihm deshalb nicht verwehrt.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das in der Sammlung gemeiner und besonderer pommerscher und Rügischer Landes-Urkunden […] veröffentlichte Patent, betreffend die Beerdigungen verunglückter Personen, vom 17ten Februar 1799. In ihm heißt es, dass nicht alle Selbstmörder „gleich zu achten“ seien, „sondern ein billiger Unterschied zu machen ist, ob sie wegen vorher begangener oder intendirter Verbrechen, Schande und Abscheu verdienen, oder ob ihre Handlung aus einer Gemüthskrankheit entspringt“, und ihnen deshalb ein „ehrliches Begräbniß nicht zu versagen“ und gegebenenfalls auch mit Zwangsmitteln durchzusetzen sei. Im gleichnamigen Patent vom 17. Februar 1794 war bereits darauf verwiesen worden, dass die meisten Selbstmörder „durch Melancholie auf diesen Vorsatz gerathen“, die ihre Ursache „häufig blos aus körperlichen Fehlern, aus dem Geblüte, dem Temperamente, einer Verletzung des Gehirns oder sonst entspringt“ und folglich sehr oft „ganz unschuldigen Ursprungs“ sei. Die „mehrsten“ Selbstmörder würden deshalb „wahres Mitleid und Theilnahme an ihrer aus Gemüthskrankheit entspringenden unglücklichen Lage“ verdienen.

In der Medicinal-Ordnung für Schwedisch-Vorpommern und Rügen, durch König Gustav III. von Schweden am 7. Dezember 1770 in Kraft gesetzt, war unter anderem geregelt, dass bei gewaltsam ums Leben gekommenen Personen, dazu gehörten auch Selbstmörder, der Arzt den Physikus (eine Art Kreisarzt) oder einen anderen Arzt, wenigstens aber einen „conzessionierten“ Chirurgen zur Besichtigung oder Öffnung der Leiche heranziehen und alles protokollieren musste. 29 Jahre später, in einer Verordnung vom 27. September 1799, wurde die Notwendigkeit sorgfältiger Untersuchungen von „schleunigen und ausserordentlichen Todesfällen“ vor der Beerdigung bekräftigt, „um der Verheimlichung unglücklicher und gewaltsamer Todesarten möglichst zuvorzukommen“.

Über die damalige juristische Behandlung des Selbstmordes und einer eventuellen Beihilfe findet sich im Brockhaus´ Conversations-Lexikon von 1886 eine kurze Notiz. So heißt es zunächst, die „gemeinrechtliche Praxis“ bestrafte den vollendeten Selbstmord „mit schimpflichem oder wenigstens stillem Begräbnis“, den versuchten „arbiträr“ [willkürlich, nach Ermessen] mit Gefängnis, Verweisungs- und anderen Strafen. Das moderne Recht kenne solche Strafen jedoch nicht und bestrafe meist auch die Beihilfe nicht.

Selbstmörder wurden neben Verunglückten, Geizigen, Mördern und ihren Opfern sowie nicht ordnungsgemäß bestatteten Personen abergläubig als mögliche, den Lebenden unheimliche und meist böse gesinnte „Wiedergänger“ betrachtet. So hatte sich 1871 am Südrand von Wiek eine schwangere Frau erhängt und erschien angeblich seitdem nachts zusammen mit ihrem Kind als Irrlicht. Natürlich versuchte man, das Wiedergehen zu verhindern. Dazu wurde der Kopf dem Leichnam unter den Arm oder zwischen die Beine gelegt, auch das Aufstecken des Kopfes auf einen Pfahl sollte helfen. Der Abwehr sollten weiterhin Messer auf der Türschwelle, Gebete, Messen oder Wallfahrten dienen, auch bedeckte man Kopf und Körper des Leichnams mit Steinen, teilweise sogar Steinhaufen.

Während die rügenschen Regionalzeitungen einzelne vollendete oder versuchte Fälle oft ausführlich beschrieben, wurde über die Gesamtzahlen der jährlichen Selbstmorde in der vorliegenden historischen Literatur kaum berichtet. Eine Ausnahme stellten oft die Memorabilienbücher der Kirchen dar, so zum Beispiel das von Samtens, in dem für 1888 bei 32 Sterbefällen im Kirchspiel auf zwei Selbstmörder verwiesen wurde, einen Stellmacher und einen „Eigentümer“ in Dreschvitz. Über die Gründe wurde nichts vermerkt. Auf dem Bäderdampfer „Göhren“ der „Sassnitzer-Dampfschiffahrts-Gesellschaft“ kam es 1921 zu einem glimpflich verlaufenen Selbstmordversuch, über den die Saßnitzer Zeitung am 16. September berichtete: „Kurz vor Stubbenkammer stieg plötzlich ein ungefähr 20 Jahre alter, gut gekleideter junger Mann mittschiffs auf die Reling, feuerte aus einem Revolver einen Schuß auf sich selbst ab und sprang dann ins Wasser, wo er sogleich unterging […]. Der Selbstmordkandidat wurde schließlich von einem […] Fischerboot aufgegriffen, und ein an Bord des Dampfers befindlicher Arzt stellte bei ihm lediglich einen leichten Streifschuss oberhalb des Herzens fest, so dass der seinen Eltern nur wenig beschädigt zurückgegeben werden konnte […].“

Eher makaber waren Androhungen tatsächlich nicht beabsichtigter Selbsttötungen, sei es, um Aufmerksamkeit zu erlangen, eine Forderung durchzusetzen oder aus anderen Gründen. Ob es eine Badeanstalt auf Rügen war, die Erich Kästner 1930 zum „Selbstmord im Familienbad“ animierte, wissen wir nicht. Das Gedicht schildert überspitzt, aber nicht völlig realitätsfern die Verhältnisse in einem der Anfang des 20. Jahrhunderts an der östlichen Ostseeküste eingeführten Familienbäder. Drei der sieben Verse mögen genügen:

 

Freigelassne Bäuche und Popos

Stehn und liegen kreuz und quer im Sande.

Dicke Tanten senken die Trikots

Und sehn aus wie Quallen auf dem Lande.

 

Wütend stürzt man über tausend Leiber,

bis ans Meer, und dann sogar hinein –

doch auch hier sind dicke Herrn und Weiber.

Fett schwimmt oben. Muß denn das so sein?

 

Hier bleibt keine Wahl, als zu ersaufen!

Und man macht sich schwer wie einen Stein.

Langsam lässt man sich voll Wasser laufen.

Auf dem Meeresgrund ist man allein.