Seit 1998 erscheint die Wiener Philosophiezeitschrift polylog. Das Programm, so formulierte es der österreichische Philosoph Franz M. Wimmer, einer der maßgeblichsten Initiatoren des Projektes, in der Startausgabe könne in zwei Punkten ausgedrückt werden: „Es ist erstens eine neue Sicht auf die Geschichte des Philosophierens zu entwickeln, und es muss zweitens in jeder Sachfrage der Polylog zwischen möglichst vielen Traditionen stattfinden aufgrund des einfachen Sachverhalts, daß es niemals eine Sprache der Philosophie gegeben hat oder gibt. Soll dieses Programm durchführbar sein, so muss es einen dritten Weg neben einem zentristischen Universalismus (welcher Tradition immer) und dem Separatismus oder Relativismus von Ethnophilosophie geben. Ich meine, es gibt ihn tatsächlich: Er besteht in einem nicht mehr bloß komparativen und auch nicht nur ‚dia-logischen‘, sondern in einem ‚polylogischen‘ Verfahren der Philosophie.“
Dieser Auftakt sowie ebenso das von den Initiatoren entwickelte Leitbild für polylog lassen vermuten, dass hier ein Projekt mit einem Anspruch entstanden ist, der nicht bloß die Philosophie als Fachdisziplin betrifft, sondern Soziologie, Kulturtheorie, Geschichtsschreibung bis hin zum praktisch-politischen Denken und Tun berühren sollte. Im Leitbild heißt es: „Wir sehen im interkulturellen Philosophieren die Bemühung, in die philosophischen Diskurse Beiträge aller Kulturen und Traditionen als gleichberechtigte einzuflechten, also nicht bloß vergleichend nebeneinander zu stellen, sondern so in einen offenen gemeinsamen Raum – möglichst in der jeweils angemessenen Form und Weise – zu bringen, dass alle Positionen in diesem Polylog für Veränderungen offen gehalten bleiben. Interkulturelles Philosophieren halten wir also nicht für eine bestimmte Theorie, Disziplin oder Schule, sondern für eine Neuorientierung in der Praxis des Philosophierens, die – ebenso wie deren Methoden – zu reflektieren, Angelegenheit dieser Zeitschrift ist.“
Inzwischen ist nun die 48. Ausgabe dieser Zeitschrift zum Schwerpunkt „Autoritarismus und Identitätspolitik“ erschienen. Mit diesem von Hans Schelkshorn und Wolfgang Tomaschitz im Jahr 2022 herausgegebenen zweiten Heft ist dieser Jahrgang komplett. Das nächste Heft erscheint im Sommer 2023 mit dem Schwerpunkt „Futurismus und Futurität“.
Die Artikel in dem etwas umfangreicher als sonst ausgefallenen aktuellen Heft beschäftigen sich unter anderem mit Autoritarismus und Identitätsmanagement in China (Heiner Roetz, Bochum), der Diktatur des Heimischen in Polen, wobei in ungewohnter Terminologie vom Tribalismus der polnischen Politik die Rede ist (Andrzej Gniazdowski, Warschau), und mit der ideologischen Grundlegung des russischen Krieges gegen die Ukraine (Alexander Höllwerth, Salzburg). Aufregende Beiträge also, die wie in jedem Heft durch Berichte und Buchbesprechungen komplettiert werden.
Das Originäre dieser Zeitschrift ist nicht zuerst die Themenauswahl, sondern die Perspektive, aus der diese Themen behandelt werden. Konsequent geht es stets um interkulturelle Ansätze. Das heißt nun jedoch nicht, dass Philosophien außerhalb Europas lediglich stärker als im akademischen Philosophiebetrieb üblich berücksichtigt werden. Vielmehr geht es darum, dass Philosophierende außerhalb Europas und Spezialisten für außereuropäische Philosophie nicht als Exoten mit speziellen regionalen Ideen präsentiert werden, sondern mit Grundfragen eines jeden Philosophierens vertreten sind. Dass dieses Konzept für ein Staunen oder gelegentliches Raunen in einigen Fachkreisen sorgt, das hat auch damit zu tun, dass dieses Konzept unter der als normal empfundenen Dominanz „abendländischer“ Politik, Kunst, Wirtschaft und Philosophie aus dem Rahmen fällt, sich – modisch ausgedrückt – dem Framing entzieht. Für die Kunstgeschichte forderte der aus Nigeria stammende Wissenschaftler und Kurator Okwui Enwezor, die uns vererbte „NATO-Version der Kunstgeschichte“ zu überdenken. Für die Philosophiegeschichte gilt wohl ähnliches.
Obwohl polylog keine ausdrücklich politische Zeitschrift ist, lassen sich Ansätze der Befreiungsphilosophie, wonach es zum Beispiel nicht ausreichend sei, einen Begriff von Freiheit zu diskutieren, der nicht das aktive Moment – nämlich Befreiung – einbezieht, deutlich erkennen. Eine durchaus politische Dimension hat auch das Streben interkulturellen Philosophierens nach begrifflicher Dekolonialisierung, wie Anke Graneß und Britta Saal im Nachruf für den afrikanischen Philosophen Kwasi Wiredu im Heft 47 herausgearbeitet haben. Thaddeus Metz, Philosophieprofessor in Südafrika, schreibt in diesem Heft über „Der junge Marx im Licht einer afrikanischen Ethik“ und behauptet, dass Marx in seinen Frühschriften die philosophischen Grundlagen seiner Kapitalismuskritik und die Begründung des Sozialismus am gründlichsten ausgearbeitet hätte. Daraus ergibt sich im Folgenden für Metz die Frage, ob die Marxsche oder die afrikanische Ethik für die Begründung des Sozialismus philosophisch attraktiver sei. Einmal davon abgesehen, dass „afrikanische Ethik“ mir eine zu grobe Verallgemeinerung darstellt, das Herausarbeiten der Gemeinsamkeiten und Unterschiede allein provoziert sicherlich Widerspruch. Dieser kann berechtigt und produktiv sein, wenn die kritischen Einwände die interkulturelle Perspektive von Metz nicht generell ablehnen.
Franz M. Wimmer hatte bereits 1998 als Grundlage für ein Vorankommen im interkulturellen Polylog eine Zutrauensregel vorgeschlagen. Diese Regel lautet: „Suche wo immer möglich nach transkulturellen ‚Überlappungen‘ von philosophischen Begriffen, da es wahrscheinlich ist, daß gut begründete Thesen in mehr als nur einer kulturellen Tradition entwickelt worden sind. Bereits die Einhaltung dieser Minimalregeln würde zu verändertem Verhalten in der Wissenschafts-, Kommunikations- und Argumentationspraxis führen.“ Auf die Politik gemünzt nannte Simone Weil dieses Herangehen Ehrfurcht vor fremder Wahrheit. Es leuchtet ein, dass eine solche Denkweise einer positivistisch-mathematischen-militärischen Logik mit Begriffen wie „Zivilisierte“ und „Unzivilisierte“, „unsere Werte“ als alleiniger Maßstab, „Siegfrieden“ oder „Kulturkampf“ entgegensteht und vielmehr einen viel tiefer gehenden zeitgemäßen, also interkulturellen, Humanismus begründen hilft. Außerdem wären philosophische Debatten im Gegensatz zur partei- oder staatspolitisch institutionalisierter Politik durchaus in der Lage, durch Perspektivenwechsel und Verzicht auf politische Partikularinteressen im Sinne des Leitbildes von polylog zu denkbaren Konfliktlösungen beizutragen.
Gegenwärtig erscheint diese Möglichkeit der Neuorientierung für die Praxis jedoch als Illusion. Die teilweise harschen und regelrecht dümmlichen politischen Reaktionen auf einen klugen Artikel von Jürgen Habermas zum russischen Angriff auf die Ukraine und seine Überlegungen, wie der Krieg beendet werden könnte, lassen wenig Platz für Hoffnung. Auch wird die politische Initiative des russischen Außenministers Sergej W. Lawrow, über den Horizont des gegenwärtigen Augenblicks hinauszublicken und im UN-Sicherheitsrat darüber diskutieren zu wollen, wie eine wirklich multipolare Welt aufgebaut werden könnte, kaum zu einer Lösung führen. Partikularinteressen Russlands, die immerhin zu einem Angriffskrieg geführt haben, werden keinen Spielraum für die Wahrnehmung des eventuell Richtigen lassen, weil es eben das Richtige im Falschen ist und aus Sicht anderer Partikularinteressen vom Falschen vorgeschlagen wurde.
Selbst unter diesem Gesichtspunkt, wenn auch etwas zu direkt in der Verbindung von Philosophie und Politik betrachtet, lohnt es, die von der Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie (WiGiP) herausgegebene Zeitschrift sowie die Aktivitäten dieser Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen, um eigene Positionen zu schärfen, infrage zu stellen und den eigenen Horizont zu erweitern.
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