Die 1786 geborene russische Großfürstin war eine Tochter des Zaren Paul I. (1801 im trauten Familienkreis ermordet). Die Mutter stammte aus Württemberg. 1804 verheiratete man sie mit dem Weimarer Erbprinzen Carl Friedrich. Ihre Mitgift verzückte den kompletten Weimarer Musenhof und band ihn mit allerlei pekuniären Vorteilen lebenslang fest an die zarischen Kassen. Maria folgt brav ihrem orthodoxen Leitstern: Auch in der Ferne habe ich bedingungslos Russland und der Dynastie Romanow zu dienen! Dass sie in dieser Mission von Weimar aus als Primaballerina auf die Bühne europäischer Diplomatie gelangte, ist eine sanfte Übertreibung.
Aber sie ertrug es tapfer, dass Weimars Soldaten 1812 mit Napoleon gen Moskau marschierten. Goethe lobte sie dafür und meinte, sie hätte am liebsten selbst zum Säbel gegriffen, wäre aber auch als Friedensengel eine wunderbare Frau. Dank einer europäischen Koalition mit dem damals als „rettenden Engel“ bezeichneten Zaren Alexander I. von Russland an der Spitze avancierte Weimar auf dem Wiener Kongress 1815 mit gnädiger russischer Hilfe und entgegen eigenen höheren Wünschen zum Großherzogtum. Goethe nannte es ein Geschenk der Götter, an dem man nicht herummäkeln durfte.
Aber es war eine Zeitenwende. Gestützt auf die Erinnerungskultur der sächsisch-thüringischen Ernestiner, im Schatten der entschlossenen und unbequemen strategischen Weitsicht des Großherzogs Carl August, im Sog der treu sorgenden Liebe und Sorgfalt ihres Gemahls und mit dem unvergleichlichen geistigen Kapital eines Zentrums der klassischen deutschen Literatur im Rücken, konnte auch Maria Pawlowna ihre potenten individuellen Fähigkeiten an der Ilm nutzbringend entfalten. Das provinzielle Weimar bildete zugleich eine ideale Chance zur Mythenbildung: Maria Pawlowna reüssierte blitzschnell zum „Engel der Armen“, zur Wohltäterin ihrer Untertanen, zur Vorreiterin einer angedachten Erneuerung des Musenhofs und zur grenzenlosen Bewunderin Goethes. Sie wurde zur Inkarnation einer fabelhaften Acquisition unter der Kontrolle der heimischen Petersburger Dynastie.
Sie sammelte so nachhaltige Pluspunkte, dass ihre Verehrer ihr einen Heiligenschein verliehen, der es ihr noch heute ermöglichen, im Ranking regionaler historischer Glanzlichter einen respektablen Platz einzunehmen.
Justament in diesen Tagen ist die Nachfrage nach dem kleinen „Dragoner“ (Kaiserin Katharina II. von Russland) erneut gewachsen: Je gefährlicher die weltweite Schlacht um die Ukraine entbrennt, umso stärker wächst der Wunsch, sich an Maria Pawlowna zu erinnern! Selbst aus der deutschen Bundesregierung erklingt das verhaltene Lob, dass dank ihres Wirkens kaum eine deutsche Stadt so viel Russland aufweisen kann wie Weimar. Da wird man in Stuttgart, Schleswig oder Schwerin und Zerbst aufhorchen!
Selbst die Klassik Stiftung in Weimar verbindet ihre Zukunftsvisionen mit der verschwörerischen Andeutung, eine Maria Pawlowna könnte künftig hilfreicher sein als man es bisher vermutet! So gibt es zumindest die Thüringische Landeszeitung wider. Wenn die Aussagen unter dem ratlos wirkenden Motto „Weitermachen, besser scheitern“ ernst gemeint sind, stellen sie eine politische Aussage dar, die durchaus Aspekten einer positiven Lebensleistung Maria Pawlownas entsprechen könnte: Wie schwierig für sie auch das Leben in Weimar und in dessen Verhältnis zum Petersburger Hof gewesen ist, der Bestand der Dynastie und das Wohl der Untertanen verlangten eine Vermeidung jeglicher gewaltsamer Konfrontationen und eine einvernehmliche Lösung aller Probleme. Weimars Abhängigkeit von russischen Finanzstrom, die Mitwirkung am Feldzug Napoleons gegen Moskau waren eine Hypothek, die nicht allein durch die geistige Kraft der Dichter aufgewogen werden konnte.
Es hing viel von der steten Bereitschaft zur Kommunikation ab, selbst wenn die Großfürstin nur bedingten Einfluss auf große politische Entscheidungen besaß und der Zar das kleine Ilm-Athen nicht besonders schätzte – was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte. Wenn Russlands Zar Nikolaus I. zum Beispiel seiner Schwester Maria Pawlowna die Hand der Großfürstin Olga für ihren Sohn Carl Alexander verweigerte, nahm sie es zähneknirschend hin. Ihr Gemahl Carl Friedrich warb dafür in Den Haag erfolgreich um die königliche Prinzessin der Niederlande Sophie. Die war Maria Pawlownas Nichte und von einem Reichtum, der Maria Pawlownas Mitgift weit übertraf, zum ewigen Glück Weimars.
Doch adelsstolz und distanziert, erzogen in der Schlangengrube einer autokratischen Dynastie, voller Vorurteile gegenüber den kleinen deutschen Höfen, aber gebildet und geistig rege wie musisch begabt, erfasste Maria Pawlowna schnell und mit klarem Blick die Grenzen, Möglichkeiten und Chancen ihres Daseins in Weimar.
Im allgemeinen fürstlichen Rollenspiel nahm ihre Verantwortung für die Wohltätigkeit gegenüber Armen und Kranken einen zentralen Platz ein. Das 1817 von einfachen Frauen aus dem Bürgertum gegründete „Patriotische Institut der Frauenvereine“ erhob sie mit autokratischem Anspruch zu ihrem Markenzeichen. Es gab eigentlich keinen Bereich im Leben des Großherzogtums, auf den sie gemeinsam mit ihrem Ehemann ohne dirigierenden Einfluss geblieben wäre. Sein protestantisch geprägter Konservatismus und ihre autokratische Grundhaltung waren sogar eine ideale Konstellation für das biedermeierliche Weimar vor der Revolution von 1848.
Wer in Weimar Geschichte schreiben will, steht tagtäglich vor der Aufgabe, nicht nur dem breit gefächerten Angebot eines Musenhofs im ernestinischen Traditionsverständnis immer wieder neue Impulse zu verleihen. Er muss die Kraft aufbringen, dem durch die klassische deutsche Literatur und Philosophie in einem provinziellen Ambiente begründeten nationalen kulturellem Zentrum tatsächlich weltoffene Bedeutung zu verleihen.
Welcher Kraftanstrengung bedurfte es, Weimar 1999 zur europäischen Kulturstadt auszugestalten. Der neue Aufbruch zu Maria Pawlowna folgte dem Kulturstadtjahr im Wirkungskreis eines europaweiten Events mit gesamtdeutscher Signalwirkung. Wie schwer ist es da gewesen, in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts ein zwischen Carl Friedrich und Maria Pawlowna abgestimmtes Programm zur gleichzeitigen Sanierung der Schlösser in Weimar, Tiefurt, Kromsdorf und der Wartburg auf den Weg zu bringen – zumal es finanzielle Mittelbestätigungen aus Petersburg bedurfte. Das Konzept einer Goethe-Nationalstiftung konnte unter den Bedingungen des preußischen Aufstiegs zur deutschen Führungsmacht gar nicht realisiert werden, auch, weil es damals in Weimar selbst nicht gelungen ist, den schriftlichen Goethe-Nachlass für die öffentliche Nutzung freizubekommen, weil sich die Erben dagegen sperrten.
Persönlich pflegten Carl Friedrich und Maria Pawlowna das Erbe der Klassiker und des Musenhofs, so, wie sie es verstanden mit einem regen geistiges Leben in der Hofgesellschaft. Sie holten Franz Liszt an die Ilm, gründeten kulturelle Vereine, kauften und sammelten bedeutende Werke der bildenden Kunst. Die Verdienste sind unbestritten. Doch ein wirklich historisches Wahrzeichen Weimars wie das Goethe- und Schiller-Archiv entstand erst als Maria Pawlowna und Carl Friedrich längst die historische Bühne verlassen hatten.
Es sind in den letzten 30 Jahren zahlreiche Publikationen, geschrieben, Ausstellungen gestaltet oder Vorträge über das Leben Maria Pawlownas gehalten worden. Sie sind besonders überzeugend, wenn sie die russische Großfürstin im realistischen Kontext ihres persönlichen Weimarer Umfelds sowie der deutschen und europäischen Geschichte betrachten.
Die jüngsten Gedanken aus der Klassik-Stiftung treffen den Nerv der Menschen, deren Zorn darüber wächst, dass der russische Krieg in der Ukraine immer mehr zu einem Weltkonflikt ausartet. Maria Pawlowna hat keine weltpolitischen Krisen beendet. Sie hat mitgeholfen, politische Interessenkonflikte auszugleichen. Das allein ist doch schon der Erinnerung wert, mit Freud und Leid, Phantasie und Leidenschaft. Aber nichts geht ohne Russland.
Schlagwörter: Detlef Jena, Klassik-Stiftung, Maria Pawlowna, Weimar, Zar Nikolaus I.