In seinem „Online-Tagebuch 2008-2021“ spricht Matthias Biskupek immer wieder vom „TLQ“, dem „Thüringer Literaturquintett“, zu dem auch er sowie der verstorbene Eichsfelder Hans-Jürgen Döring gehörten. Immer wieder ist dieses Quintett aufgetreten, auch um durch die gespendeten Honorare an sozialen Brennpunkten helfen zu können. Biskupeks Diarium wurde von seinen Freunden und Mitstreitern, dem Terzett Frank Quilitzsch, Martin Straub und Landolf Scherzer, herausgegeben. So stehen zu Beginn des Buches drei Vorworte – vor allem sind dies Erinnerungstexte. Abgerundet wird die Edition durch den ergreifenden Nachruf Steffen Menschings, dem Intendanten des Rudolstädter Theater, an dem Biskupek drei Jahre gearbeitet hatte.
Ein Tagebuch ist in der Regel nichts Öffentliches, eher etwas Privates, das mitunter für die Nachwelt von Interesse sein kann. Biskupek nutzt seinen Blog, der ganz Privates ausklammert, um direkt zum Leser zu sprechen. Mancher Biskupek-Verehrer, der etliche seiner zahlreichen Bücher gelesen hat oder sich an den Sound des „Palmbaum“- Autors erinnert, wird Teile der neuen Publikation vielleicht kennen. Aus 3000 Eintragungen – die TLZ vom 26. November 2022 sprach gar von 7000 – haben die drei Lektoren eine Auswahl getroffen, deren Titel „Worte ohne Verfallsdatum“ sich mir nicht erschließt.
Ein Teil der 1. Auflage, die ein Jahr nach Biskupeks Tod (11. April 2021) erschien, ist für Thüringer Schulen vorgesehen – gratis. Der Autor war ein politischer Kopf, ein scharfer Beobachter der Zeitgeschichte und Gegenwart vor beziehungsweise nach dem Umbruch 1989. Vor allem hatte er verschiedene Medien (nicht zuletzt die lokalen) im Visier. Ihn interessierte, wie Einheimische mit Migranten umgehen, wie sie sich zu jüdischen Mitbürgern und ihrer Kultur verhalten. Ohne DDR-Nostalgiker gewesen zu sein, entgeht dem Tagebuchschreiber nichts, was Ostdeutsche herabsetzt. Vor allem können junge Leser bei dem „Wortarbeiter“ und Satiriker lernen, wie er Übertreibungen in der Gendersprache und Reglementierungen für politisch „korrektes“ Sprechen attackiert und auf die Schippe nimmt. Was, fragt Biskupek, passiert mit unserer Sprache, wenn sie täglich mit vermeidbaren Anglizismen überhäuft wird. „Die deutsche Sprache schöpft gerade in letzter Zeit wunderbare deutsche Begriffe, vom Homeoffice bis chillen. Leider nutzen manche Menschen immer noch ein unverständliches Kauderwelsch.“ Keine Gnade kennt der Schriftsteller bei sprachlichen Entgleisungen der AfD, die er auf Straßen und in Medien wahrnimmt. Unbedingt hätte man interessierten Schülern und jungen Lehrern, sage ich als alter Pauker, Anmerkungen anbieten müssen.
Zu großen Teilen besteht das lesenswerte Buch des Literaten aus Notaten für Literaten, für Literatur- und Kunstfreunde. Erschrocken war Biskupek selbst, als er bemerkte, wie viele Nekrologe sich in seinen Blog „geschlichen“ hatten. Auslöser für seine morgendlichen Eintragungen waren verschiedene Kalender, Informationen aus dem Netz sowie immer wieder Texte aus der Tagespresse.
Das Buch nutzt eine ganze Palette literarischer Möglichkeiten: Schriftstellerporträts, Szenen, Briefe, Träume, Witze, Reiseprosa, Wortsammlungen, Alltagsschilderungen, gar ein Kloßrezept und immer wieder unterhaltsame Lyrikparodien (etwa zu Goethe und Mörike), durch die er die alten Texte und Formen in die Gegenwart holt.
Biskupek war ein unermüdlicher Rezensent mit einem sicheren, mitunter scharfen Urteil. Über gut gemachte Bücher, wie beispielweise die 15 Jahre alte „Edition Ornament“ aus dem Jenaer quartus Verlag konnte er sich (im Eintrag vom 20. Dezember 2020) freuen.
In Chemnitz, dem vormaligen Karl-Marx-Stadt, wurde der „Quotensachse“ Biskupek geboren, in Mittweida wuchs er auf. Seit den siebziger Jahren war das thüringische Rudolstadt seine Wahlheimat. Zum Biskupek-Sound gehört, dass er in seinen Texten fast durchgehend Mundartliches aus dem Sächsischen & Thüringischen aufnimmt. Dem Volk wollte er so genau wie möglich aufs Maul schauen. Auch hat der Autor, der sich namentlich in slawischen Sprachen auskannte und einen Namen slawischen Ursprungs trug, ein immer wieder durchscheinendes Interesse an der Geschichte von Wörtern.
Oft kommt Biskupek auf Selbsterlebtes zu sprechen, so auch auf Lebensabschnitte, die er im Krankenhaus oder in der Nationalen Volksarmee – während seines „Ehrendienstes“ – zubringen musste. „… die Genossen Soldaten sollten sich zu irgendetwas verpflichten. Ein Kamerad schrieb: Ich verpflichte mich, die Kampfkraft der NVA um 7,33 Prozent zu erhöhen. Armeen sind immer humorlos; die NVA war es in besonderem Maße. Der Kampfkrafterhöher bekam zwei Tage Bau.“
Durch wunderbare Schwarz-Weiß-Photographien wird jedes Jahr des Diariums „eingeläutet“. Fast alle Photos – das vorzügliche Coverportäts eingeschlossen – sind von Sigrid Biskupek, der Ehefrau. Immer wieder sieht uns der schelmisch lachende Autor an. Die letzten Bildnisse zeigen, wie der Schriftsteller von der Krebserkrankung angegriffen worden ist. Die Beigabe der Bildnisse ist eine gute Gestaltungsidee. Die an den Rand gedrückten Seitenzahlen indessen wirken befremdlich.
Der Schreiber dieser Zeilen hat 1984 „Meldestelle für Bedenken“, Biskupeks Debüt, rezensiert. Für den „Palmbaum“ dufte er sein letztes Buch „Das literarische Rudolstadt“ besprechen. In seiner Widmung nennt Biskupek mich einen „Kenner der Weltliteratur“. Schon diese Bemerkung zeigt den geborenen Satiriker, den herzensguten Spötter Matthias Biskupek. Sein „Witz“, sagte Freund Mensching am Grabe, „reichte bis auf die letzten Meter.“
Matthias Biskupek: Worte ohne Verfallsdatum. Aus dem Online-Tagebuch 2008-2021, THK, Erfurt 2022, 328 Seiten, 14,90 Euro.
Schlagwörter: Matthias Biskupek, Online-Tagebuch, Ulrich Kaufmann