Der chinesische Präsident Xi Jinping reist in diesem Jahr vermutlich zweimal nach Indien, wo er an den Gipfeltreffen der G20-Staaten und der Schanghai-Gruppierung teilnehmen wird. Dabei gibt es die Möglichkeit, mit dem Gastgeber, Premierminister Narendra Modi, ausführliche Gespräche zu führen. Ob diese stattfinden werden, ist ungewiss, denn beim letzten G20-Treffen auf Bali reichte es zwischen beiden nur zu einem kühlen Handschlag.
Dabei haben sich die beiden Politiker bis zum Jahr 2019 regelmäßig getroffen. Beobachter registrierten fast zwanzig solcher Begegnungen – auf Konferenzen und zu Staatsbesuchen. Jedes Mal fand ein reger Dialog statt. Im Jahr 2018 in Wuhan waren es erstmalig ausführliche Arbeitsgespräche, die ihre Fortsetzung 2019 in Südindien fanden.
Es war nicht nur die Corona-Epidemie, die eine Weiterführung dieser Begegnungen verhinderte. Die Interessenlage beider Staaten erfuhr Veränderungen, bedingt durch einen gesteigerten Nationalismus sowie die sich verändernde internationale Lage. Davon blieb das bilaterale Verhältnis nicht unberührt.
Noch vor der Corona-Epidemie, am 15. August 2019, fällte die indische Regierung eine schwerwiegende innenpolitische Entscheidung. Sie annullierte den Autonomiestatus ihres nördlichen Bundesstaates Jammu und Kaschmir und stufte ihn in zwei von Neu Delhi kontrollierte Unionsterritorien herab. Die Unruheprovinz Kaschmir, in der immer wieder separatistische Tendenzen auftauchten und pakistanischer Einfluss zu spüren war, sollte befriedet werden und neue Entwicklungschancen erhalten. Dieser Schritt, der weltweit als eine innenpolitische Maßnahme gewertet wurde, stieß zum Erstaunen vieler auf wütende chinesische Reaktionen. Diese waren nicht nur zur Unterstützung pakistanischer Positionen gedacht, sie enthüllten gleichzeitig ureigenste chinesische Interessen. So wurde offiziell behauptet, dass die einseitige Änderung des Status von Jammu und Kaschmir die Souveränität Chinas verletze, das neue Gesetz sei nicht annehmbar und in keiner Weise bindend. Deutlicher als je zuvor machte so die chinesische Regierung ihre Ansprüche auf Gebiete jenseits der Westgrenze Tibets deutlich. Bereits 1963 hatte sie unter Ausnutzung fehlender Grenzmarkierungen etwa 20.000 Quadratkilometer im Gebiet Ladakh zu ihrem Staatsgebiet erklärt. 1965 kamen 5.000 Quadratkilometer dazu, das Shaksgam Valley, das Pakistan an China abtrat.
Das alles sind hoch sensible und, da am Karakorum-Pass gelegen, strategisch äußerst wichtige Territorien. Hier stoßen Indien, Pakistan und China aneinander. Früher gehörte dieses Gebiet mit den Provinzen Ladakh, Gilgit und Baltistan zum Fürstentum Kaschmir. In den Wirren der Teilung des kolonialen Indien besetzten pakistanische Truppen den nördlichen Teil dieser Region, der bis heute de facto zu Pakistan gehört. Es entstand eine feste pakistanisch-chinesische Grenze, die Grenzlinien Indiens zu Pakistan sowie die zu China tragen keinen völkerrechtlichen Charakter. Erstere ist infolge militärischer Auseinandersetzungen praktisch eine Waffenstillstandslinie, die zweite ist weder vermessen noch markiert, bestehende Abmachung gründen sich oft auf alte Festlegungen und Gewohnheiten.
Für China ist dieses Gebiet von größter geostrategischer Bedeutung. Am Karakorum-Pass, über den seit Jahrhunderten die Handelsrouten vom Subkontinent nach Mittelasien verliefen, beginnt heute ein wichtiger Teil seiner Neuen Seidenstraße. Mit Investitionen von etwa 60 Milliarden US-Dollar wird von hier quer durch Pakistan eine stabile Verbindung Westchinas zum Arabischen Meer und damit zum Indischen Ozean hergestellt. Indische Ansprüche auf das von Pakistan kontrollierte Kaschmir werden dabei negiert. An der fragilen Grenzlinie Chinas zu Indien wurde auf tibetischem Gebiet forciert eine militärische Infrastruktur aufgebaut, die der Absicherung chinesischer Interessen rund um den Karakorum-Pass dient.
Das führt immer wieder zu Spannungen, da Indien diesen Veränderungen nicht tatenlos zusieht. In raschem Tempo wird auf indischem Gebiet ebenfalls eine Infrastruktur hochgezogen, die fast bis an den Karakorum-Pass reicht.
Zusammenstöße zwischen Grenzsoldaten blieben nicht aus. Doch im Juni 2020 ereignete sich der schwerste Zwischenfall seit Jahrzehnten mit zahlreichen Todesopfern. Er wurde zum Wendepunkt in den Beziehungen. Denn die indische Regierung beschuldigte China, diese Aktion vorsätzlich geplant, indisches Gebiet besetzt und gemeinsame Vereinbarungen gebrochen zu haben. In harschen Reaktionen wurde die Zusammenarbeit mit China eingeschränkt. Normale Beziehungen könnten ohne Frieden, Ruhe und Normalität an der Grenze nicht wieder hergestellt werden, hieß es.
Seit diesem Geschehen sind fast drei Jahre vergangen. Die Konfrontation im Konfliktgebiet an der Grenzlinie wurde durch Abmachungen auf regionaler militärischer Ebene vermindert. In einigen sensiblen Gebieten rückten die Truppen auseinander, Truppenstärken wurden reduziert. Im Verhältnis beider Staaten zueinander herrscht aber nach wie vor Eiszeit. Bei einem Treffen des indischen Außenministers mit seinem neuen chinesischen Amtskollegen am Rande des G20-Außenministertreffens in Neu Delhi bezeichnete dieser die Beziehungen als „anormal“. „Es gibt wirkliche Probleme in diesen Beziehungen, die einer Erörterung bedürfen“, erklärte der indische Außenminister. Quin Gang hingegen äußerte, dass sich die Situation an der Grenze stabilisiere, die Grenzfrage solle nicht die bilateralen Beziehungen bestimmen. Doch Indien gibt sich damit nicht zufrieden. Am 18. März wiederholte der indische Außenminister, dass die Situation an der Grenzlinie auf Grund der hohen Truppenkonzentration „fragil und gefährlich“ sei. Und er fügte hinzu: „Man kann nicht bestehende Abkommen verletzen und dann den Rest der Beziehungen fortsetzen, als ob nichts geschehen wäre“.
Doch nicht nur Grenz- und Territorialprobleme belasten die Beziehungen. China ist zunehmend ungehalten über ein immer größeres Engagement der USA in Indien. Eine Reihe von Abkommen für eine Sicherheitspartnerschaft zwischen den USA und Indien, die Teilnahme Indiens an der indopazifischen Gruppierung Quad sowie die starke Ausdehnung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit wertet die chinesische Führung als gegen ihr Land gerichtet. Indien orientiert jedoch auf die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt, mit der ihr Streben um einen anerkannten Großmachtstatus verwirklicht werden soll. Damit erhöht es auch sein Eigengewicht gegenüber China – so sehen es viele Beobachter. Dabei ist die indische Regierung um Abstand gegenüber der US-Politik bemüht. Sie lässt trotz Drucks aus Washington keine Herabsetzung der indisch-russischen Beziehungen zu. Auch eine Übernahme der amerikanischen Haltung in Fragen wie Tibet, Taiwan, Hongkong oder der Uigurenfrage findet nicht statt. Nach wie vor werden hier Positionen vertreten, die China gelegen kommen.
Tatsache ist jedoch, dass die beiden großen asiatischen Nachbarstaaten, in denen ein Drittel der Weltbevölkerung lebt, nicht zueinander finden. Es gibt viele gleichgelagerte Interessen zu Weltproblemen, wie etwa die Haltung zum Ukraine-Konflikt oder die Herstellung einer gerechteren Weltordnung. China initiierte im letzten Jahr seine „Globale Sicherheitsinitiative“ sowie die „Globale Entwicklungsinitiative“, die in ihren Kernpunkten den aktuellen Vorstellungen Indiens nach einer gleichberechtigten Teilnahme des Globalen Südens an den internationalen Strukturen nahe kommt.
Treffen von Präsident Xi mit Premierminister Modi würden die Gelegenheit geben, solche Fragen konstruktiv anzugehen. Doch dazu ist ein Minimum an Vertrautheit notwendig, das offensichtlich nicht gegeben ist. Da helfen auch die Worte des russischen Außenministers nicht, der im Februar in Neu Delhi äußerte: „Indien und China sollten Freunde werden.“
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