26. Jahrgang | Nummer 6 | 13. März 2023

Frieden oder мир?

von Stephan Wohanka

Was soll dieser Gegensatz? Das fragen die, die zumindest rudimentäre Kenntnisse des Russischen haben, respektive in der DDR lebten. „мы за мир“ – wir sind für den Frieden war damals eine der am weitesten verbreiteten Losungen; keine schlechte. Was soll also – namentlich heute – der Gegensatz Frieden oder Frieden?

Etwas tiefer mit dem Russischen Vertraute wissen, dass мир auch für Welt oder gar Kosmos steht. Erstere Bedeutung findet ihren Niederschlag im Begriff русский мир, Russische Welt. Damit löst sich der Gegensatz Frieden oder Frieden auf in Frieden oder русский мир – und bekommt so eine völlig andere Gestalt, eine gewaltige Brisanz: Die Russki Mir ist heute eine imperiale Idee, deren Wurzeln weit zurückreichen.

Woher nimmt sich diese „Welt“? Ihre ursprüngliche Bedeutung besteht wohl darin, ein Kulturraum zu beschreiben; analog zur Griechischen oder Römischen Welt. Begriffe wie Russische Idee oder auch Russische Seele, die desgleichen im russischen Geistesleben Verwendung finden, deuten auch auf einen ursprünglich kulturellen Charakter hin, auf eine poetische Metapher. Zugleich unterfütterte und legitimierte jedoch die Idee der Russki Mir im Verbund mit dem orthodoxen Glauben die jahrhundertelangen Eroberungen außerrussischer Gebiete durch das Zarenreich. Schon im 16. Jahrhundert war es Praxis, die unterworfenen Territorien mit Russen zu besiedeln und mittels Sprache und Kultur zu russifizieren. Von Bedeutung ist dabei, dass – wie Fjodor Dostojewski seinem Tagebuch anvertraute – die Mission Russlands darin liege, „mit den russischen Worten der Wahrheit die tragischen Missverständnisse der west-europäischen Zivilisation zu korrigieren“.

Zu Zeiten der Sowjetunion ersetzte die Ideologie des Kommunismus zwar den orthodoxen Glauben; die aus der Russki-Mir-Imagination gespeiste Umsiedlungspolitik von Russen und anderen Nationalitäten blieb bestehen. Stalin, einst Volkskommissar für Nationalitätenfragen der provisorischen ersten Sowjetregierung, feierte am 24. Mai 1945 vor Kommandeuren der Roten Armee das russische Volk: „dieses hervorragendste Volk der UdSSR“ habe durch „klaren Verstand, Charakterfestigkeit und Geduld“ den Zweiten Weltkrieg gewonnen.

Das russische Volk allein? Heute ist bekannt, dass im Verhältnis Belarus und die Ukraine mehr Tod, Leid und Zerstörung als Kernrussland zu ertragen hatten. Stalin, vom Georgier zum großrussischen Chauvinisten mutiert, dokumentierte vor aller Welt den Führungsanspruch von 100 Millionen Russen gegenüber allen anderen Nationalitäten der UdSSR. Passend dazu hieß es schon ab 1944 in der sowjetischen Hymne: „Die unzerbrechliche Union der freien Republiken vereinigte für die Ewigkeit die große Rus“.

Selbst während des Großen Vaterländischen Krieges gegen Nazideutschland sah Stalin nicht von inneren Deportationen ab. Namentlich Krim-Tataren, Tschetschenen, aber auch Deutsche, Kalmücken, Inguschen wurden ohne Versorgung und Unterkunft in unwirtlichen Wüstengebieten ihrem Schicksal überlassen, was zur Liquidierung ihrer Autonomie führen musste. Auch die danach einsetzende innersowjetische Liberalisierung lockerte nicht wesentlich den halbkolonialen Status, in dem die Russen namentlich die asiatischen Sowjetrepubliken hielten. In der Endphase der Sowjetunion zermürbten jedoch auch Nationalitätenkonflikte das Land. Die sowjetische „Russische Welt“ war offenbar keine Idylle …

Putins 2005 geäußerte Reminiszenz zur Sowjetunion, deren Implosion, die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ sei, legt offen, dass es ihm nicht um den Kommunismus, sondern um das Imperium ging. Dieses fiel quasi über Nacht auseinander; zehntausende Russen befanden sich plötzlich im Ausland, in neugebildeten souveränen Staaten. Territoriale Fragen, die mit willkürlichen innersowjetischen Grenzziehungen verbunden waren, blieben offen. Verständlich, dass sich in den 1990er-Jahren ein Kongress Russischer Kommunen (KRK) bildete; ein Zusammenschluss verschiedener politischer Strömungen, der sich für die Rechte der russischen Diaspora einsetzte. Jedoch suchte schon der KRK nach Möglichkeiten, die russischen Grenzen zu verschieben, um Belarus, Transnistrien und zumindest Teile der Ukraine sowie Nord-Kasachstans zu integrieren. „Historisches Territorium“ sollte wieder hergestellt und die „Wiedergeburt des mächtigen Vaterlandes“ ermöglicht werden.

2006 forderte Putin die russischen Kulturschaffenden auf, den Ausdruck Russki Mir so oft wie möglich zu verwenden. 2007 kam es durch einen Präsidenten-Erlass zur Gründung der Stiftung Russki Mir, die ein weltweites Netz russischer Zentren in zahlreichen europäischen und asiatischen Städten unterhält; wohl dem deutschen Goethe-Institut nicht unähnlich. Im engeren Sinne ist Russki Mir ideologisch weitgehend unbestimmt; der deutsche Theologe Thomas Bremer bezeichnete 2016 das Konzept der Russki Mir als eine „diffuse mentale Landkarte“. Nur acht Jahre beschrieb der belarussische Dichter Ihar Babkou das Wesen des Konzepts dergestalt: „Die heutige ‚Russische Welt‘ umfasst Praktiken des brutalen und aggressiven Neoimperialismus, die vor allem gegen die direkten Nachbarstaaten gerichtet sind“, wie sie seit „2014/2015 vollständig zum Vorschein gekommen sind“. Übertreibt der Dichter?

Der Vorsitzende der Stiftung Russki Mir, Wjatscheslaw Nikonow, vertrat schon 2016 die Überzeugung, die Ukraine sei ein failed state, der über „keine Demokratie“ verfüge. Russland dagegen sei eine „starke Nation“ mit „bedeutende[n] historische[n] Errungenschaften“. 2022 nannte er den Angriffskrieg gegen die Ukraine einen „heiligen Krieg von Gut gegen Böse“. Tatsächlich begründete Putin die „militärische Spezial-Operation“ mit dem Schutz der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine; ein starkes Indiz dafür, über russischsprachige Bevölkerungsteile in postsowjetischen Ländern die oben erwähnte „Katastrophe“ zu korrigieren; das Großrussische ist virulenter denn je! Da diese Staaten – zumindest in Europa – dem Westen zuneigen, führte das zu einer Ideologisierung des Russki-Mir-Konzeptes durch antiwestliche, antiliberale und neoimperiale Aspekte. Der „Historiker“ Putin weiß um die Macht der Geschichte; wie einst Stalin. Angelehnt an den „Vaterländischen Krieg“, den Russland einst siegreich gegen Napoleon Bonaparte 1812 ausfocht, nannte letzterer den Abwehrkampf gegen Nazideutschland den „Großen Vaterländischen Krieg“. Für den innerrussischen „Gebrauch“ versah Putin die ukrainische Regierung mit dem Etikett „Nazis“ – schon war die historische Parallele hergestellt; man müsse nun leider wieder gegen „Nazis“ ins Feld ziehen. Und nicht zuletzt werden á la Dostojewski eigene „geistig-moralische Werte“ beschworen, die sich grundlegend von denen des als schwul-verkommenen (гейропа – Gayropa) wahrgenommenen Westens unterscheiden.

Wo Russland anfängt, ist klar, wo hört es auf? Nach der Doktrin der Russki Mir hat es keine klaren Grenzen und bedroht Nachbarn mit Krieg und Zerstörung. Die Propaganda bewirkt, dass die Russen eher bereit sind, den Verlust bürgerlicher Freiheiten im Inneren hinzunehmen als eine Niederlage in einem Krieg.

Russland könnte Russland sein, ohne danach streben zu müssen, „Speerspitze“ einer antiwestlichen Alternative zu spielen.