26. Jahrgang | Nummer 6 | 13. März 2023

Die Spur der Schweine

von Frank-Rainer Schurich

In der symbolischen und realen Weltordnung stehen die Tiere ganz unten. Wie diese Ordnung am besten zu interpretieren ist, hat niemand genauer zum Ausdruck gebracht als der englische Schriftsteller George Orwell. In seiner 1945 erschienenen Fabel von der „Farm der Tiere“ beschrieb er anschaulich, wie es um die ernährungspolitische Grundsituation eigentlich bestellt ist: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das konsumiert, ohne zu produzieren. Er gibt keine Milch, er legt keine Eier, er ist zu schwach, den Pflug zu ziehen, er läuft nicht schnell genug, um Kaninchen zu fangen. Und doch ist er der Herr über alle Tiere.“

Noch weiter unten stehen die Hausschweine. Sie haben ein elendes Schicksal und dürfen sich nur reproduzieren, um auf dem Teller oder dem Grill zu landen. Sie galten von jeher als schmutzig, gefräßig und triebhaft, wodurch das Schwein trotz aller Leistungen für das Menschenwohl zum beliebtesten deutschen Schimpfwort aufstieg. „Du (Dreck-)Schwein!“ ist eine Beleidigung, schweinisch heißt obszön, und der Schweinigel ist in der Regel ein Mann (sonst müsste man ja im aktuellen Genderwahn noch die Bezeichnung „Schweinigelin“ erfinden), der nur an sexuelle Dinge denkt und ununterbrochen eben derlei Witze erzählt.

Wie wir von Herbert Pfeiffer erfahren(„Das große Schimpfwörterbuch“), soll 1881 ein Bauer zu einer Geldstrafe verurteilt worden sein, weil er einen Nachbarn, der ihm auf der Straße mit einem Schwein entgegenkam, mit den Worten „Guten Tag miteinander!“ begrüßt hatte. Ein Schwein anzusprechen – das ging ja nun gar nicht. Bonzenschwein, Bullenschwein und Kommunistenschwein sind weitere Spielarten dieser unendlichen Schimpfwortliste. Da nimmt sich, so Pfeiffer, die Beschimpfung „intrigantes Schwein“ dezent aus, welche die FDP-Politikerin Schwaetzer öffentlich an ihren Parteifreund Jürgen Möllemann richtete.

Schweine sind auch deshalb ein besonderes Kapitel, weil sich Schweine und Menschen immer mehr annähern, zumal Die Prinzen seit Jahren in einer Art Endzeitstimmung besingen, dass man in dieser Welt ein Schwein sein muss. „Und jetzt stand außer Frage, was mit den Gesichtern der Schweine passiert war“, schrieb dazu George Orwell. „Die Tiere draußen blickten von Schwein zu Mensch und von Mensch zu Schwein, und dann wieder von Schwein zu Mensch, doch es war bereits unmöglich zu sagen, wer was war.“

Schweine haben durchaus Kriminalgeschichte geschrieben, allerdings fast nur als Opfer. Im südenglischen Exeter irrte im Jahr 1994 plötzlich ein Schwein umher. Weil sich gleich vier angebliche Besitzer um das Tier stritten, ordnete die örtliche Polizei einen Schnüffeltest an. Das Borstenvieh sollte bei einer Gegenüberstellung selbst entscheiden, welcher der vier Bewerber der wahre Eigentümer ist. Und – es entschied, womit der Fall endgültig gelöst war. Ob die Spur die richtige war, ist nicht überliefert. Und außerdem war es letztlich egal, von wem es geschlachtet wurde …

Als Täter sind Hausschweine nur selten in Erscheinung getreten. So hatten drei Schweine im Januar 2007 im Norden Serbiens einen Bauernhof in Brand gesetzt. Sie waren aus dem Stall in das Haus gelaufen und hatten dort einen Fernseher umgekippt – der gewaltig explodierte. Und in Rumänien war im Dezember 2011 ein Mann beim Schlachten von seinem eigenen Schwein getötet worden, sozusagen als Notwehr. Beim Adventsschlachtfest hatte sich der 19-Jährige in einem Dorf in den Vorkarpaten dem Tier mit einem Messer genähert. Als er zustechen wollte, trat das Schwein gegen seine Hand. Dabei rammte sich der Mann das Messer in den Hals und verletzte sich tödlich.

Wenn sich dagegen wilde Schweine in der Stadt aufhalten, werden sie nur selten zu Kriminellen. Legen sie allerdings nicht gewünschte Spuren, geht es ihnen oft an den Kragen.

Am 26. Mai 2003 wurden in den Morgenstunden kurz nach sechs Uhr in Berlin-Mitte zwei ausgewachsene Wildschweine auf der Fahrbahn Alexanderstraße / Schillingstraße gesichtet, die sich offenbar einen schönen Maientag machen wollten. Eine sofortige Absuche durch die Polizei war erfolglos, bis wenig später die Leiterin der Kita Jacobystraße meldete, dass sich die beiden Keiler jetzt auf dem eingezäunten Geländer der Kindereinrichtung befänden. Nachfragen in Streichelzoos, ob dort Wildschweine vermisst würden, waren allesamt negativ. Nachdem die Kinder in einen Raum ohne Sicht auf das Geschehen geführt wurden und dort auch verblieben, erlegte ein Förster vom Forstamt Zehlendorf die beiden Tiere waidgerecht, ohne jegliche Gefährdung für andere Personen.

Die südpolnische Stadt Krakau (Kraków) hatte im Mai 2022 wieder einmal Besuch von einem randalierenden Wildschwein. Das ausgewachsene Borstenvieh stürmte einen Frisörladen, aber nicht für einen Borstenschnitt. Kunden und Personal traten die Flucht an, machten aber einen großen Fehler: Sie schlugen die Tür hinter sich zu. Das nunmehr eingeschlossene Tier verwüstete die Inneneinrichtung und konnte nur von Polizei, Feuerwehr und Tierrettung beruhigt und eingefangen werden. Aber, niemand wurde verletzt. Die Stadtverwaltung stellte daraufhin Käfige mit Früchten auf: Wildschweinfallen.

Wildschweine sind auch als Räuber auffällig geworden. Im Sommer 2020 schnappte sich eine Sau an einer FKK-Badestelle am Berliner Teufelssee eine gelbe Tasche, in der sich ein Laptop befand. Das Opfer bemerkte das und rannte nackt hinterher. Ein Foto von dieser Verfolgung war am folgenden Tag in der Zeitung und in den sozialen Medien zu bestaunen – und brachte alle zum Lachen. Der Mann konnte der Sau die Beute abnehmen, die aber ungestraft davon kam. Es sei aber nicht ausgeschlossen, wie das Landesfortamt umgehend mitteilte, dass sie in der Jagdsaison erlegt werde. „Modellbahn-Fans können die Szene inzwischen sogar in ihre Eisenbahn-Landschaft integrieren. ‚Wildschweinalarm‘ heißt das Set, erhältlich für Spurgröße H0“ – so steht es dazu in der Berliner Zeitung vom 25. Juli 2020.

Schließlich soll noch auf Jagdunfälle verwiesen werden. Relativ häufig kommt es vor, dass Menschen im Orwellschen Sinne als Wildschweine identifiziert werden. Bei einem tragischen Jagdunfall in Russland im Jahr 2010 ist zum Beispiel ein Vize-Generaldirektor des Energieriesen Gazprom von einem Gewerkschafter des Staatsunternehmens erschossen worden. Der Arbeitnehmervertreter habe den ranghohen Manager bei der Jagd in einem Wald bei Perm am Ural „irrtümlich für ein Wildschwein gehalten“, sagte ein Polizeisprecher. Der Funktionär des Branchenriesen habe einen Bauchschuss erlitten und sei im Krankenhaus gestorben.

Er hatte im doppelten Sinne kein Schwein gehabt …