26. Jahrgang | Nummer 7 | 27. März 2023

Deutungskampf

von Erhard Crome

Der Radiosender Antenne Brandenburg erinnerte am 20. März daran, dass 30 Jahre zuvor, am 20. März 1993, der brandenburgische Boxer Henry Maske mit einem einstimmigen Punktsieg gegen den US-Amerikaner „Prince“ Charles Williams Weltmeister (des Verbandes IBF) im Halbschwergewicht geworden war. Der Boxkampf hatte in Düsseldorf vor 6200 Zuschauern stattgefunden. 3,1 Millionen Fernsehzuschauer verfolgten die Live-Übertragung. Maske war nun Idol des deutschen Boxkampfes. Er war zuvor bereits erfolgreicher Amateur-Boxer der DDR und  hatte eine Goldmedaille bei der Weltmeisterschaft 1989 sowie 1985 bis 1989 drei Europameistertitel errungen und bei der Olympiade 1988 eine Goldmedaille erkämpft. Trainiert wurde er von Manfred Wolke, der 1968 in Mexiko-Stadt ebenfalls olympisches Gold geholt hatte und später seine Trainerausbildung an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig absolvierte. Bis 1996 bestritt Maske eine Reihe weiterer Kämpfe, mit bis zu 18 Millionen Fernsehzuschauern.

Maske kommt in der aktuellen Schrift von Dirk Oschmann über den Osten als „westdeutsche Erfindung“ nicht vor. Seine Beispiele aus dem Bereich des Sports kommen vom Fußball. Maske ist historisch aus heutiger Sicht jedoch deshalb interessant, weil er seine Leistungen entgegen dem Strom des Machtgefälles und des Zeitgeistes erreichte. Während der Westen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre in der früheren DDR die Industrie zerstörte und Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit schickte, darunter den größten Teil der universitären und außeruniversitären Forscher und Lehrkräfte, feierte Maske seine größten Triumphe. Er wurde im Osten wohl vor allem deshalb so sehr geschätzt, weil er bewies, dass einer „von hier“ so etwas vermochte. Für einen solchen Befund spricht, dass das allgemeine Interesse am Profiboxen nach Maskes Ausscheiden rasch wieder nachließ.

Oschmanns Buch, kaum erschienen, verkaufte sich rasch sehr gut; es war schon nach wenigen Tagen auf Platz 8 der Spiegel-Bestsellerliste (Nr. 10), dann auf Platz 2 (Nr. 11 und 12). Auf der Spiegel-Seite oben ist auch noch ein kurzer Anreißer, der bereits Werbung ist. Er lautet: „Zugehörigkeit durch Abgrenzung: So erdenkt sich der Westen den Osten. Furiose Streitschrift eines Germanisten über die Identitätspolitik, die den sprichwörtlichen Ossi erschaffen hat.“ Hier ist die scheinbar positive Präsentation bereits sublimierte Vereinnahmung, sie kaschiert den gesellschaftskritischen Gehalt der Polemik oder „Schmähschrift“, wie der Autor selbst den Text nennt. In der Tat polemisiert Oschmann mit der Identitätspolitik, insbesondere mit der gesinnungsprüfenden Praxis an den Universitäten. Als das wirkliche Problem benennt er jedoch „das steile Macht-, Herrschafts-, Besitz-, Lohn-, Renten-, Erbschafts- und Diskursgefälle, das seit über 30 Jahren zwischen Westen und Osten herrscht und sich immer weiter verfestigt.“ Ganz altmodisch: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Nicht die neumodische Identitätspolitik hat den „Ossi“ geschaffen, sondern die Eigentums-, Einkommens- und Rentenpolitik des westdeutsch dominierten Staatswesens.

Die Grundthese ist: „Wenn die seit über 30 Jahren bestehenden systematischen Ächtungen und radikalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligungen des Ostens nicht aufhören, hat dieses Land keine Aussicht auf längerfristige gesellschaftliche Stabilität.“ Dabei dreht Oschmann die Perspektive um. Er will nicht das vermeintliche Problemfeld „Osten“ diskutieren, sondern das Problemfeld „Westen“, nach der Art und Weise fragen, „wie der Westen den Osten wahrnimmt und diskursiv zurichtet“ und warum er dies tut. Der öffentliche Raum als ökonomischer, medialer und diskursiver Raum „ist nicht nur komplett in westdeutscher Hand, sondern normalerweise auch vollständig von westdeutschen Perspektiven beherrscht“.

Dirk Oschmann, geboren 1967 in Gotha, ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig, dem Bekunden nach der einzige Ostdeutsche auf einer solchen Stelle. Er betont, er sei kein Zeithistoriker oder Soziologe. Gleichwohl hat er die einschlägigen Studien und Analysen gelesen und ausgewertet, in diesen Zeiten werde ja nur geglaubt, was mit Daten und Zahlen untersetzt ist. Er weist darauf hin, dass die Anfang der 1990er Jahre auf die neuen  Professorenstellen im Osten berufenen Wessis alle ihre Gehilfen und Doktoranden mitbrachten. Nur die Sekretärinnen, Hausmeister und technischen Kräfte waren Eingeborene. Das hat zur Folge, dass bei der sogenannten zweiten Berufungswelle seit 2010 auch wieder nur Personen mit westdeutschem Hintergrund in die entsprechenden Stellen einrücken.

In der Politik ist das etwas anders, dem Bevölkerungsanteil von 19 Prozent entsprechen etwa 19 Prozent Politiker mit ostdeutschem Hintergrund. Hier wird gewählt. Bei der Besetzung der Spitzenposten aber wird ausgewählt, und zwar durch die bereits früher Auserwählten. So ist der Anteil Ostdeutscher bei Spitzenposten im Militär bei 0,0 Prozent, in der Wissenschaft bei 1,5 Prozent und in der Justiz bei 2 bis 4 Prozent. „Hier geht es nicht um demokratische Abstimmung, sondern um Netzwerke und Stammesvorsorge, um Freundschaften, Bekanntschaften, Ähnlichkeiten in der Herkunft, im Habitus, in der Weltwahrnehmung, natürlich geht es außerdem ganz schlicht um Vetternwirtschaft, Vitamin B, Machtbehauptung, Besitzstandswahrung, alles in allem um westdeutschen Tribalismus.“ Der Ausschluss Ostdeutscher ist kein „gefühlter“, sondern belegbar.

Dass die deutsche Geschichte nach 1945 „im doppelten Sinne geteilte Geschichte war“, ist naheliegend; es überfordert aber viele Westdeutsche, „auch die DDR als Teil der gesamtdeutschen Geschichte zu begreifen“. Die BRD verstand sich als „Deutschland“, während die DDR als „Ostzone“ galt. Das setzt sich nach der „Wiedervereinigung“ fort: Die Geschichte der alten Bundesländer gilt als „Normalgeschichte“ oder „Normgeschichte“, während „die Geschichte der neuen Bundesländer gleichsam als klapperndes Anhängsel lediglich nebenherläuft“. Der „Osten“ wird daher „als besorgniserregende ‚Sonderzone‘ wahrgenommen, die einer ‚Sonderbehandlung‘ bedarf“. In dem Diskurs seit 1989 wird Osten mit Dummheit, Faulheit, Armut, Rassismus, Chauvinismus und Rechtsextremismus gleichgesetzt, während Westen das Gegenteil von all dem sei. Osten sei „immer das, was man nicht haben will, das Fremde und falsche Andere einer wesentlich niedrigeren Zivilisationsstufe“. In diesem Sinne reproduziert sich das pejorative Verhältnis Westdeutschlands gegenüber Ostdeutschland auch in der und mit der EU gegenüber Osteuropa.

Unter Bezugnahme auf Klaus Wolfram – der 1989 das Neue Forum mitbegründet und an dem Verfassungsentwurf für die DDR mitgearbeitet hatte – verteidigt Oschmann die Relevanz des Vergleichs zwischen Erfahrungen aus der DDR und den heutigen Umständen. „Kein Ostdeutscher verachtete je die Demokratie, weder vor 1989 und erst recht nicht danach – er erkennt sie nur genauer, er nimmt sie persönlicher.“ Der Westen versucht unablässig, „die politischen Erfahrungen des Ostens zu delegitimieren“, es seien ausschließlich Diktaturerfahrungen. Tatsächlich war es auch Revolutionserfahrung, Umsturzerfahrung, Basisdemokratie und Erfahrung „mit der gegenwärtigen Spielart der Demokratie als ‚Post-Demokratie‘.“ Der Osten hat deshalb die Möglichkeit eines Vergleichs, der es ihm gestattet, Dinge anders und schärfer zu sehen. Das will der Westen nicht wahrhaben. Er hatte sich entschlossen, die „Selbstbefreiung des Ostens“ als „Sieg des Westens“ zu interpretieren.

Das entscheidende Problem besteht darin – so Oschmann in Anlehnung an Kant und Habermas – dass der Osten vor 1989 keine eigene Öffentlichkeit hatte und danach auch nicht, weil er in der gesamtdeutschen Wirklichkeit weder eine gleichberechtigte Stimme noch ein adäquates Diskussionsforum hat. „Die Tore, die sich 1989 politisch geöffnet haben, sind in den Neunzigerjahren institutionell geschlossen worden: durch neue Strukturen einerseits, konkret handelnde Akteure andererseits.“ Oder anders gesagt: „Bis 1989 war man im Osten durch Besatzung und Diktatur entmündigt und eingeschlossen, seit 1990 wird man im Osten vom Westen entmündigt und ausgeschlossen.“

Dirk Oschmanns Text enthält deutliche Abgenzungen gegenüber der DDR, der „Diktatur“, „Unrechtsstaat“, der „stalinistischen Sowjetunion“. Er zitiert Imre Kertész mit der Formulierung „Völkergefängnis des sozialistischen Lagers“. Er lehnt es ab, er würde der DDR „sentimental nachtrauern oder irgendwo nostalgisch festsitzen“. Das macht ihn immun gegenüber westlichen Anwürfen, er wäre „Jammer-Ossi“ und würde die DDR vermissen. Zugleich betont er unter Bezug auf Foucault, dass es bisher nur zwei akzeptierte Rituale des Sprechens gibt, die zugleich „Prozeduren der Unterwerfung“ sind, „sich zum Stigma der ostdeutschen Herkunft ins Verhältnis zu setzen: erstens die explizite Kritik und Distanzierung dieser Herkunft“ und „zweitens die Selbstdemütigung durch vorauseilende Ironisierung, wie sie etwa der Kabarettist Olaf Schubert praktiziert“. Diese „beiden Kunststückchen der Assimilation“ habe er  „schon oft erfolgreich vorgeführt“ und wolle dies mit diesem Text nicht wiederholen. Das Buch passt in diese Zeiten und sollte eine weite Verbreitung finden.

Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Ullstein Verlag, Berlin 2023, 222 Seiten, 19,99 Euro.