26. Jahrgang | Nummer 7 | 27. März 2023

China: Entwicklungsland in Richtung Hightech–Nation

von Werner Birnstiel

In stürmischen Zeiten Kurs zu halten, verlangt zweifelsohne auf sein Ziel gekonnt und flexibel zuzusteuern. Mit der 1. Tagung des 14. Nationalen Volkskongresses (NVK) vom 5. bis zum 13. März 2023 beginnt China nun tatsächlich eine neue Etappe der Intensivierung seiner Reform- und Öffnungspolitik. Für die wurde nach dem 100. Jahrestag der Gründung der KP Chinas am 1. Juli 2021, durch den 20. Parteikongress der KP Chinas im Oktober 2022 die Strategie zur Entwicklung bis 2035 und weiter bis 2049, dem 100. Jahrestag der Gründung der VR China, vorgegeben. Ziel bleibt, die sozialistische Modernisierung sozial so gerecht zu gestalten, dass „deren beträchtliche Fortschritte eine für alle spürbare Prosperität bringt“. Als gesellschaftlicher Hauptwiderspruch existiere aber der „zwischen den ständig wachsenden Bedürfnissen des Volkes nach einem schönen Leben einerseits und der noch unausgewogenen und unzureichenden Entwicklung andererseits.“ So Xi Jinping auf dem 20. Parteikongress der KP Chinas.

Unter dieser Maßgabe wurde Xi Jinping als Staatspräsident auf Lebenszeit bestätigt, sein Vertrauter Li Qiang zum neuen Ministerpräsidenten gewählt und solche neuen Staatsräte und Minister ernannt, die in Persona diese Strategie am effektivsten umzusetzen in der Lage sein sollen. Dabei widerspiegeln sich in den Zielen, im Inhalt und in der Form des weiterzuführenden Reform- und Öffnungsprozesses Traditionen, die auch in der mehrtausendjährigen geschichtlichen Kaiser-Kontinuität im „Reich der Mitte“ wurzeln.

Die Macht Xi Jinpings als die Führungspersönlichkeit in seiner Ära seit 2012 wurde weiter ausgebaut. Die Zentralmacht mit Xi als Generalsekretär des ZK der KP Chinas mit ihren 96 Millionen Mitgliedern soll zugleich so flexibel wirken, dass der Reform- und Öffnungskurs innen- und außenpolitisch ständig weiter modifiziert vorangebracht wird.

Wie in China in fast allen Belangen sind die Herausforderungen allseits gigantisch: Die rigide Corona-Pandemiebekämpfung durch die Regierung seit 2019 hat nach dreijährigem Erdulden durch die Bevölkerung deren Widerstand wachsen lassen. Peking musste Ende 2022 radikal umsteuern. Denn steigende Arbeitslosigkeit durch zeitweilige Unternehmensstillegungen wegen der Pandemie, der gleichzeitige Arbeitskräftezustrom vom Land in die Städte und 10,7 Millionen Hochschulabsolventen, 1,7 Millionen mehr als 2021, die auf Job-Suche sind, Versorgungsengpässe und inflationäre Entwicklungen gefährdeten die soziale Stabilität. Durch Steuernachlässe, Subventionen, günstige Kredite vor allem für kleine und mittlere Unternehmen wird inzwischen die Schaffung von Arbeitsplätzen stimuliert, ebenso die Bereitschaft auf dem Lande zu leben, wo die Anschaffung von Haushaltsgerät, Möbel, Wohnungs-Innenausstattungen aller Art, Automobilen vom Staat bezuschusst oder gänzlich bezahlt wird. Ausdrücklich auf dem Lande wird die teilweise kostenlose medizinische Versorgung qualitativ verbessert.

Übergreifend geht es jetzt darum, einen Entwicklungsmechanismus Industrie – Landwirtschaft und direkt zwischen den Bewohnern ländlicher und städtischer Gebiete aufzubauen. Schwerpunkt bleibt dabei, die Land-Stadt-Entwicklung in schwach entwickelten Provinzen und Autonomen Gebiete im Westen Chinas koordiniert voranzubringen. Zugleich läuft bereits die Ausformung bestimmter Gebiete zu riesigen Hightech-Zentren: die Küstenprovinzen, hier vor allem die strategischen Großregionen im Norden Beijing-Tianjin-Provinz Hebei (seit 2014), dann im mittleren China mit Shanghai als „Drachenkopf“ das Yangzi-Delta und im Süden mit Guangzhou (Kanton) und dem gesamten Perlflussdelta einschließlich Hongkong und Macao. Im Ausbau sind chinaweit 19 City-Cluster, in denen Dreiviertel der Stadtbewohner auf einem Fünftel der bewohnbaren Fläche Chinas leben. 900 Millionen Menschen sind in China derzeit im arbeitsfähigen Alter bei einer Gesamtbevölkerung von 1410 Millionen Zentrale Herausforderung dabei ist, die Urbanisierung als ein entscheidender Weg zur strukturellen Modernisierung der Industrie und zur Steigerung der Inlandsnachfrage zwischen 2023 und 2035 zu nutzen. Zurzeit werden 80Prozent des Bruttoinlandsproduktes Chinas in diesen Stadtregionen erzeugt. Ende 2022 gab es 914 Millionen Stadtbewohner, 12,05 Millionen mehr als 2021, die Landbevölkerung nahm um 11,57 Millionen ab auf 498 Millionen Menschen. Und mehr als etwa 8 Millionen neue Arbeitskräfte drängen jährlich auf den Markt, vor allem bisherige Landbewohner und Absolventen verschiedenster Ausbildungsrichtungen.

Wegweisend zur Lösung dieser Fragen war die Rede Xi Jinpings am 16. Januar 2023 – wohl kalkuliert kurz vor der NVK-Tagung im März – auf einem Symposium mit „Nicht-KP-China-Mitgliedern“. Xi betonte, dass der „Nicht-öffentliche-Sektor (der Volkswirtschaft) unerschütterlich ermutigt, unterstützt und geführt“ werden müsse. Hinter der gewundenen Formulierung „Nicht-öffentlicher-Sektor“ steckt, dass gegenwärtig 50 Prozent der privaten Firmen zu über 50 Prozent der Steuereinnahmen beitragen und über 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts Chinas erwirtschaften. Von ihnen kommen über 70 Prozent der technologischen Innovationen und über 80 Prozent der städtischen Beschäftigung werden durch sie abgedeckt. Insgesamt machen die privaten Firmen über 90 Prozent der Gesamtheit der Marktakteure in China aus. Jedoch: Die Schlüsselbereiche der Industrie und Landwirtschaft, die Rohstoffgewinnung, die Kritische Infrastruktur, besonders in IT-Bereichen, bleiben unter staatlicher Oberhoheit.

Das betrifft auch die auf der NVK-Tagung betonte Schlüsselstellung von Forschung und Entwicklung. Eine Studie des „Australian Strategic Policy Institute“ (ASPI) vom 14. März 2023 zeigt, dass „China im globalen Vergleich einen Vorsprung in verschiedenen Technologiebereichen“ hat. In 37 der 44 von der ASPI untersuchten Technologien ist China führend, z.B. in Bereichen der Verteidigung, Raumfahrt, Robotik, Energie, Umwelt, Biotechnologie, Künstliche Intelligenz, Fortschrittliche Werkstoffe und Quantentechnologie. Herausragende Bedeutung kommt bei der Umsetzung von Forschung und Entwicklung der staatlichen Akademie der Wissenschaften Chinas zu, da sie in vielen der 44 Technologiefelder global einen Spitzenplatz einnimmt, häufig liegt sie auf dem ersten oder zweiten Platz. Bei acht Technologien der 44 Technologiefelder sieht das ASPI die Möglichkeit für ein chinesisches Technologiemonopol. Peking strebt an, ein immer stärker „innovationsgetriebenes Wachstum“ bei Verringerung quantitativer Zunahmen durchzusetzen.

Vor diesem innenpolitischen Hintergrund kommt dem Staatsbesuch Xi Jinpings in Moskau im März 2023 gerade jetzt außerordentliche Bedeutung zu. Dem „stabilen und gesunden Verhältnis“ (China – Russland) werde „neuer Elan verliehen“, zumal die Beziehungen zwischen beiden Ländern „nie besser“ gewesen seien. Heißt aber doch auch, dass Peking den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ablehnt, ohne sich direkt gegen Putin zu stellen. Denn – hierzulande ignoriert – hatte Xi Jinping bereits bei seinem Staatsbesuch in Kasachstan am 14. September 2022 betont, dass China die „Sicherung der nationalen Unabhängigkeit, der Souveränität und territorialen Integrität Kasachstans unterstützt“. Im politischen Duktus Pekings war das deutlich, denn wenige Stunden später traf Xi beim Gipfel der Shanghai Cooperation Organization in Samarkand am 15. September 2023 mit Putin zusammen. Mit den 12-Punkten im „Positionspapier zur politischen Lösung der Ukraine-Krise“ vom 24. Februar 2023 versucht Peking nun Auswege aus der Katastrophe aufzuzeigen. Demgegenüber werden die USA in der chinesischen Presse als „Anstifter und Nutznießer“ des Ukraine-Krieges zurückgewiesen.

Durch den 20. Parteitag der KP Chinas und die diesjährige NVK-Tagung sind Chinas Entwicklungsziele, -inhalte und -wege definiert. Für Russlands Führung ist nun umso beachtenswerter, welche gesellschaftspolitischen Entwicklungsmöglichkeiten sich gegebenenfalls auch für ihr Land aus Chinas Kurs der Verbindung von Marktwirtschaft mit makroökonomischer Steuerung und politischer Rahmensetzung durch die Zentralmacht KP China ergeben. Xi Jinpings Besuch vertieft die bilateralen Beziehungen, 79 Projekte im Wert von ca. 161 Milliarden Dollar werden derzeit verhandelt, ist verknüpft mit dem umfassenden Ausbau des „Neue Seidenstraße“-Projekts und befördert in diesem Kontext die Erweiterung der Zusammenarbeit mit den zehn ASEAN-Staaten, weiteren fünf Staaten in der Asien-Pazifik Region (RCEP) und parallel dazu mit den Ländern Zentralasiens. Russland wird nachdrücklich an alledem in Größenordnungen zu partizipieren bestrebt sein, ebenso an einer Kooperation im Rahmen der WTO, der G20, der BRICS und des Asia-Pacific-Economic-Cooperation-Forums. China gewinnt als kooperationsfähiges Entwicklungsland und Hightech-Nation in einer multipolaren Welt weiter an Gewicht.