26. Jahrgang | Nummer 6 | 13. März 2023

„Zwischen Welten“ von Juli Zeh und Simon Urban

von Klaus-Dieter Felsmann

Um es gleich vorweg zu sagen, ich habe die 444 Seiten des aktuellen Buchs von Juli Zeh und ihres Co-Autors an einem Wochenende mehr oder weniger in einem Zug gelesen. Der Text war für mich fesselnd, und dies nicht wegen irgendwelcher stilistischen oder sprachlichen Raffinessen traditioneller Erzählliteratur, sondern weil in ihm die kulturellen und sozialen Konflikte unserer Gesellschaft auf hohem Niveau zu einer modernen künstlerischen Verdichtung finden. Letzteres wird von der Form her über die Strukturen eines klassischen Briefromans erreicht. Allerdings nutzen die Protagonisten nicht Tinte und Papier, sondern zeitgemäß Emails und Messenger-Nachrichten. Damit zwangsläufig verbunden ist die Verwendung der rationalen Sprache des digitalen Kommunikationszeitalters. Inhaltlich vermögen die Autoren zu überzeugen, weil der Dialog der Protagonisten gerade nicht abstrakt ist, wie gern behauptet, sondern immer auf einer latent mitschwingenden sinnlichen Ebene erfolgt.

Theresa und Stefan teilten einst beim Germanistikstudium in Münster sowohl die Wohnung als auch Träume hinsichtlich eines erfüllten Lebens. Liebe wäre möglich gewesen. Doch die entsprechenden Risiken ging man lieber jeweils anderweitig ein. Die Freundschaft schien diesbezüglich zu wertvoll. Dann trennte das Schicksal die Wege der Seelenverwandten. Theresa ging zurück in ihre brandenburgische Heimat, um den Landwirtschaftsbetrieb ihres plötzlich verstorbenen Vaters zu übernehmen. Dieser hatte einst aus der LPG heraus einen ökologisch orientierten Milchbetrieb aufgebaut. Sie heiratet und wird Mutter. Stefan taucht in die Hamburger Kulturelite ein und durchläuft eine rasante Karriere bei einem dortigen Wochenblatt. Als Single bewohnt er ein Loft und er belohnt sich gut situiert für die Herausforderungen des Redaktionsalltags mit kulinarischen Freuden, Reisen und teuren Weinen. Beide Milieus werden für den Leser im Verlauf der Handlung ausgesprochen plastisch sichtbar.

Zwanzig Jahre später treffen sich beide zufällig wieder. Dabei wird aus erster Freude schnell ein so heftiges Zerwürfnis, wie es sich so nur aus Enttäuschung vor dem Hintergrund einer tiefsitzenden inneren Leidenschaft ergeben kann. Der Streit entzündet sich an aktuellen politischen und moralischen Themen wie Gendern, Ukraine-Krieg, Cancel Culture, Klimawandel etc. Kurz, eine woke und kosmopolitische Lebensphilosophie trifft auf eine eher bodenständig, auf materielle Existenzsicherung ausgerichtete Denkweise. Man versteht sich nicht mehr und man könnte es dabei belassen. So ist es in der Realität inzwischen vielfach. Genau an diesem Punkt setzt nun aber der Roman an. Die notwendige Debatte wird nicht ausgeblendet, sondern sie wird in der fiktiven Korrespondenz mit zahlreichen überraschenden Wendepunkten vehement fortgeführt. Parallel verändern sich die äußeren Verhältnisse für beide Protagonisten derart einschneidend, dass viele der vermeintlichen Gewissheiten nahezu wie von selbst ad absurdum geführt werden. Eine hübsche Auflösung, die durchaus in einem späten Liebesbekenntnis hätte bestehen können, gibt es dennoch nicht. Anliegen von Juli Zeh und Simon Urban ist es nicht, im Chor der vielen Rechthaber einen zusätzlichen Platz zu finden. Sie wollten stattdessen einen Impuls für „Differenzierung […], für perspektivische Vielfalt, für Pluralismus, für Ambivalenz und Vielschichtigkeit der Literatur“ setzen, wie sie noch vor Erscheinen des Romans der Neuen Zürcher Zeitung verrieten.

Wie notwendig es inzwischen ist, eine solche Sichtweise anzumahnen, und wie schwer das gleichzeitig ist, zeigten unmittelbar die Reaktionen auf das erwähnte Interview. Die üblichen Twitteraktivisten entfachten einen Shitstorm gegen die Autoren, weil einige Aussagen darin dem eigenen Weltverständnis nicht entsprachen. Zusammenhänge wurden außer Acht gelassen und natürlich hat man nicht abgewartet, bis der Roman in Gänze zu lesen war. Dabei gibt es keinerlei inhaltliche Auseinandersetzung mit den von Zeh und Urban vorgetragenen Argumenten, sondern nur noch negative Reflexe gegenüber unliebsamen Ansichten bzw. die diese vertretenden Personen. Ähnliche Tendenzen fanden sich wenig überraschend bald auch im deutschen Feuilleton. In der FAZ hieß es, hier liege ein „Unbildungsroman“ vor und die taz echauffierte sich über „moralinsaure Allgemeinplätze“. Erfreulicherweise – und leider nicht mehr selbstverständlich – gab es im Kosmos der publizistischen Meinungsführer in diesem Fall im bescheidenen Maße allerdings auch andere Stimmen. Die Welt erkennt eine „kluge Reflexion“, der Deutschlandfunk sieht im Roman ein „gutes Bild […] der gegenwärtigen Öffentlichkeit“ und die Süddeutsche Zeitung lobt sogar, der Roman sei „ein schlaues, satirisch-scharfes und sehr aktuelles Buch“. Alle mutmaßten, mal wohlwollend, mal eher gehässig, das Werk werde sicher ein Bestseller. Inzwischen bestätigen die einschlägigen Rankinglisten, dass man sich an diesem Punkt nicht geirrt hat. Zeitgenössische Literatur findet beim Publikum nach wie vor eine große Resonanz. Besonders, wie in diesem Fall naheliegend, wenn sie Blickwinkel einnimmt, die im sonstigen öffentlichen Resonanzraum allzu häufig ausgeklammert werden.

Interessanterweise konzentriert sich die Auseinandersetzung mit dem Roman mehr oder weniger nur auf die darin angesprochenen Reizthemen innerhalb des gesellschaftlichen Überbaus. Dabei nimmt die Handlung ebenso entschieden Konflikte unserer elementaren Lebensgrundlagen, nämlich der Landwirtschaft auf. Theresa klagt, dass Wirtschaftsberater ihr nahelegen, den ökologisch orientierten Milchbetrieb stillzulegen und stattdessen auf Energiewirtschaft zu setzen. „Dafür braucht man keine Melker mehr, keine Stallarbeiter, keine Sekretärin. Man braucht nicht einmal das Wetter, denn Mais wächst auch mit wenig Regen. Eigentlich braucht man nur noch einen Rechenschieber. Man produziert etwas, um es zu vergären, und bekommt dafür Steuergelder aus der echten Arbeit von echten Leuten.“ Daran verzweifelt die Bäuerin Theresa und nicht nur sie.

Auch Stefan droht an seiner Zeitungswelt zu verzweifeln. Da klingen manchmal ähnliche Gedanken an, wie beim realen Journalisten Birk Meinhardt, der dokumentarisch darüber schrieb, wie er seine Zeitung (die Süddeutsche) verlor. Und es klingt an, was Richard David Precht und Harald Welzer mit Blick auf die vierte Gewalt konstatierten. Nämlich, dass das Mediensystem keine Öffentlichkeit mehr zulasse, sondern nur noch Scheinrealitäten erschaffe. Stefan steht vor der Frage, ob sich seine Zeitung mehr und mehr vom objektiven und neutralen Faktenjournalismus zugunsten eines Aktivismus für eine vermeintlich gute Agenda abwenden solle. Zur Disposition steht nicht weniger, als die unabhängige Presse als ein Grundbaustein einer freiheitlich demokratischen Grundordnung. Der Roman lässt nicht offen, wo die entsprechenden Weichenstellungen fallen. Erscheint das Bedienen der aktuellen Tendenzen dem Vorstand, der Geschäftsführung und den Herausgebern von ökonomischem Vorteil, dann wird das durchgesetzt. In einer Villa im feinen Blankenese macht die Herausgeberin Stefan bei „Veuve Clicquot Rosé und Reibekuchen-Burger mit Räucherlachs in Dill-Gin-Marinade“ die neue Sichtweise klar. Das Schiff solle blitzschnell gewendet werden. Eine Doppelspitze mit Stefan und einer dunkelhäutigen jungen Frau solle das Blatt „hyper-fortschrittlich, hyper-vorbildlich, hyper-up-to-date“ machen. Stefan erliegt seiner Eitelkeit, er willigt ein. Damit endet zwangsläufig der Dialog mit Theresa, die sich inzwischen einer Art Agrar-Guerilla angenähert hat.

Juli Zeh und Simon Urban haben das Panorama einer Gesellschaft gezeichnet, die vor existenziellen Zerreißproben steht. Am Ende ist der selbstdenke Leser gefordert. So, wie er es tendenziell durch gewöhnliche Zeitungslektüre kaum noch wird.

Juli Zeh / Simon Urban: Zwischen Welten, Luchterhand Literaturverlag, München 2023, 448 Seiten, 24,00 Euro.