Die Wirtschaft ist schockiert“ titelt aktuell meine Regionalzeitung. Natürlich sind mit „Wirtschaft“ nicht die Arbeiter und Angestellten gemeint, sondern das Unternehmerlager. In den aktuellen Tarifverhandlungen fordert Verdi 10,5 Prozent, für die Angestellten der Deutschen Post angesichts der Erhöhung des Gewinns je Aktie von 15,9 Prozent sogar 15 Prozent mehr Lohn. Die IG Metall will sich mit 8 Prozent begnügen. Das kann vielen Unternehmern schon die Schweißperlen auf die Stirn und manchem anderen die Zornesröte ins Gesicht treiben. Weitere Tarifverhandlungen stehen im Textil- und Bekleidungsgewerbe, bei der Deutschen Bahn, im Kfz-Gewerbe und im Handel an.
Dabei kann sich „die Wirtschaft“ eigentlich nicht beklagen. Ein bekanntes unternehmernahes Analyseinstitut bilanziert: „2022 dürfte als ein Jahr mit einem rekordverdächtig hohen Gewinnwachstum der Unternehmen in die Geschichtsbücher eingehen.“ Die Gewinne der im weltweiten Aktienindex gelisteten Unternehmen dürften um 10 Prozent, die der europäischen Unternehmen sogar um 20 Prozent zugelegt haben. Die meisten der im Dax gelisteten Konzerne erhöhen ihre Dividende. Nach jeweils 34 Milliarden in den beiden davorliegenden Jahren sollen jetzt um die 55 Milliarden Euro auf den Konten der Aktionäre der vierzig Dax-Werte landen. Nach Adam Ries ein Wachstum von über 60 Prozent. Ein neuer Rekord!
Aber wie kann das angesichts von Krise und Krieg sein? Steigende Energiepreise und gebrochene Lieferketten haben den Unternehmen durchaus zu schaffen gemacht. Die Nominallöhne sind ebenfalls gestiegen und auch die Zinsen waren höher. Aber offensichtlich hat die Inflation den Unternehmen zumindest im Durchschnitt mehr genützt als geschadet. Das nominelle Umsatzwachstum war offensichtlich höher als die Kostensteigerung. Eigentlich ist das verständlich, denn die Preise werden von den Unternehmern gemacht, die darin zwar von der Nachfrageentwicklung und der Konkurrenz in Schach gehalten werden, aber wie die Dinge nun einmal liegen, konnten sie so hohe Preissteigerungen durchsetzen, dass ihre Gewinne kräftig angezogen sind.
Ganz anders sieht das auf der Seite der Lohnabhängigen aus. Während sich die Güterpreise von Woche zu Woche ändern, können sie den Preis ihrer Arbeitskraft nicht in diesem Takt anpassen. Die ausgehandelte Lohnerhöhung gibt es zu einem bestimmten Zeitpunkt. Tarifverträge werden mit einer bestimmten Laufzeit abgeschlossen. Der Lohn bleibt zwar auf dem höheren Niveau, er wird aber nicht wie das Preisniveau Woche für Woche erneut angehoben. So entsteht jene Lücke, die in der Volkswirtschaftslehre als Lohn-lag bezeichnet wird. Ähnlich ist es mit solchen Zahlungen wie Wohn- oder Kindergeld. In der Zwischenzeit führt die Inflation zu Realeinkommensverlusten. So verzeichnet das Statistische Bundesamt in einer seiner jüngsten Pressemitteilungen, die Nominallöhne seien mit + 3,4 Prozent im vorigen Jahr so stark wie seit 2008 nicht mehr gestiegen, zugleich seien aber die Reallöhne nun schon im dritten Jahr in Folge gesunken. Bei einer Inflationsrate von 7,9 Prozent beläuft sich der Verlust allein für 2022 auf minus 4,5 Prozent.
Die von der Bundesregierung beschlossenen Ausgleichszahlungen helfen den Arbeitnehmern natürlich, diese Zeiten zu überstehen; sie mildern die Verluste etwas, können sie aber weitem nicht ausgleichen. Glücklicherweise stiegen die Energie- und Spritpreise nicht so stark, wie von manchen befürchtet, zu Betriebsschließungen wegen Energiemangels ist es nicht gekommen. Trotz der Lieferengpässe wuchs die Beschäftigung auch im vorigen Jahr; die Arbeitslosigkeit sank. Die Zahl der Erwerbstätigen, auch der sozialversicherungspflichtigen Lohnempfänger, ist so hoch wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. So erklärt sich, dass trotz der Wohlstandsverluste infolge sinkender Realeinkommen die allgemeine Wirtschaftslage und auch die Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter sich auf den ersten Blick als recht passabel darstellen. Der von vielen, auch von mir erwartete “heiße Herbst“ hat nicht stattgefunden.
Freilich, der Teufel steckt im Detail. Nicht alle Unternehmer können Preise beeinflussen, sie sind weitgehend Preisnehmer. Und nicht alle abhängig Beschäftigten und schon gar nicht die von Sozialzahlungen Abhängigen können ihre Lage als „passabel“ bezeichnen. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen hat sich trotz des allgemeinen Beschäftigungsanstiegs nicht verringert. Der Niedriglohnbereich, der in der EU bei 15,5 Prozent aller Beschäftigten liegt, beläuft sich in Deutschland auf 20,7 Prozent. Der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands weist für 2022 13,8 Millionen Menschen aus, die von Armut betroffen oder bedroht sind. Die Zahl der Tafeln und ihrer „Kunden“ hat sich drastisch erhöht. Ein Drittel dieser Einrichtungen musste Aufnahmestopps einführen. Die Zahl von Wohnungs- und Obdachlosen ist gestiegen. „Das Elend wächst weiter“ verkündete die ARD-Tagesschau am 11. September, dem „Tag der Wohnungslosen“.
Würde es nur einem der von Armut und sinkenden Realeinkommen Betroffenen helfen, wenn die Gewerkschaften ihre Tarifforderungen zurückschraubten? Der Richtwert für diese Forderungen zu Beginn der Verhandlungen ergibt sich üblicherweise aus zwei Zahlen: der erwarteten Inflationsrate plus der Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität. Wird dieses Ziel erreicht, hält die Lohnsteigerung mit den Preissteigerungen Schritt und es kommt zu keinen Absenkungen der Realeinkommen. Zugleich erhalten die Lohnabhängigen eine der Steigerung ihrer Produktivität entsprechenden Anteil am allgemeinen Wohlstandsgewinn. Im Ergebnis bleibt die Lohnquote, der Anteil der Arbeitnehmereinkommen am gesamten Volkseinkommen, konstant. Die Verteilungsrelation zwischen Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen (Unternehmens- und Vermögenseinkommen) verändert sich nicht. Um im vergangenen Jahr auf dieses Ergebnis zu kommen, hätten bei einer Inflationsrate von 7,9 Prozent die Nominallöhne um etwa 8,5 Prozent steigen müssen.
Wen kann es da schockieren, wenn angesichts der Gewinninflation die Arbeitnehmer in den Tarifverhandlungen Forderungen erheben, die im Ergebnis etwa auf diesem Niveau zu liegen kommen? Mir als Rentner kann das nur recht sein: Die Rentenentwicklung ist auch von der Lohnentwicklung mitbestimmt. Rentiers, die an Dividenden partizipieren und Unternehmer, die Gewinne erzielen wollen, sehen das naturgemäß anders. Sie geben sich schockiert, jeder Prozentpunkt mehr Lohn mindert ihren Einkommenszuwachs und drückt ihnen aufs Gemüt. Jammern gehört zum Geschäft.
Schlagwörter: Jürgen Leibiger, Realeinkommen, Unternehmensgewinne, Wirtschaft