26. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2023

Nichts haute ihn stärker um als – „Bambi“

von Clemens Fischer

Als Rocky herauskam,
wurde er quasi mein liebster Film aller Zeiten.

Quentin Tarantino

 

Wer Streifen von Quentin Tarantino mit ihren obsessiven Gewaltorgien – etwa den Zweiteiler „Kill Bill“ (2003/2004), „Inglourious Basterds“ (2009) oder „The Hateful 8“ (2015; siehe Blättchen 4/2016) – gesehen hat, der wird mit dem folgenden Bekenntnis des Filmemachers zumindest kein Glaubensproblem haben: „Für mich ist The Texas Chain Saw Masacre einer der wenigen perfekten Filme, die jemals gedreht wurden.“ (1973; die Übersetzungen des Titels – „Das texanische Kettensägenmassaker“ – lässt ahnen, was dem Zuschauer geboten wurde.)

Das Bekenntnis Tarantinos findet sich in seinem nunmehr auch in Übersetzung vorliegenden Konvolut über die zahllosen, praktisch zu 100 Prozent US-amerikanischen Kinoproduktionen, mit denen er groß geworden ist – in dem Buch „Cinema Speculations“.

Wen die Frage nach den Wurzeln von Tarantinos überbordenden Tötungsinszenierungen interessiert, der findet darin zumindest greifbare Indizien, die zu einer Antwort führen könnten. Seine Mutter mit ihren wechselnden Lebenspartnern war passionierte Kinogängerin, die offenbar B- und C-Movies sowie insgesamt ein Genre bevorzugte, das mit dem Begriff hard boiled (hartgesotten, Action) eher euphemistisch untertrieben apostrophiert ist. Und da für einen „Babysitter“ das Geld nie reichte, wurde Klein-Quentin einfach mit vor die Leinwand gesetzt. So war er ganze zehn Jahre alt, als er mit Sam Peckinpahs „The Wild Bunch“ (1969; deutscher Titel „Sie kannten kein Gesetz“) Bekanntschaft machte. In seinem Buch nennt Tarantino den Film ein „Pulverfass“, mit dem der Regisseur „die Welt und die Filmindustrie […] ins Wanken gebracht hatte“. Letzteres dürfte zwar auf die Welt der US-amerikanischen Filmindustrie und ihrer Entourage beschränkt gewesen sein, doch „Pulverfass“ ist eine durchaus treffende Metapher, wenn man sich nur die wie Ballettszenen choreografierten, in Gemetzel ausartenden Feuergefechte am Anfang und am Ende des Films in Erinnerung ruft.

Gar noch ein Jahr jünger war Tarantino, als er Don Siegels „Dirty Harry“ sah, einen Film, dem Kritiker, der Autor vermerkt es, „Kokettieren mit einer faschistoiden Glaubenslehre“ vorwarfen. Das ist dem vorpubertären Betrachter womöglich verborgen geblieben, doch eingeprägt haben dürfte sich unter anderem jene ikonografische Szene, in der der Dirty Harry genannte Cop mit seinem großkalibrigen Revolver ein paar schwarze Bankräuber abknallt, ohne deswegen den Verzehr eines Hotdogs wahrnehmbar zu unterbrechen.

Solche Genrefilme konsumierte der Heranwachsende über Jahre und regelmäßig auch mehrfach pro Woche. Zu dieser Art cineastischer Sozialisierung vermerkt Tarantino: „Als mir irgendwann klar wurde, dass ich Filme sehen durfte, die andere Eltern ihre Kinder nicht schauen ließen, sprach ich meine Mutter darauf an. Sie sagte: ‚Quentin, mir macht es mehr Sorgen, wenn du die Nachrichten schaust. Ein Film wird dir nicht wehtun.‘ Genau so [Hervorhebung im Original – C.F.] sieht’s verdammt noch mal aus […].“ (Die Alterseinstufungen der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft hierzulande vermitteln bis heute recht häufig den Eindruck, dass dies von der FSK genau so gesehen wird.) Und bezüglich „Dirty Harry“ konkret ergänzt Tarantino: „Hatten mich irgendwelche der Bilder, denen ich ausgesetzt war, verstört? Natürlich, manche schon! Aber das hieß nicht, dass mir der Film nicht gefiel [Hervorhebung im Original – C.F.]. Als in Dirty Harry das nackte tote Mädchen aus dem Loch gezogen wird, war das total verstörend. Aber ich verstand es. Scorpio [der Serienmörder im Film – C.F.] war durch und durch unmenschlich. Umso besser, wenn Harry ihn mit der stärksten Handfeuerwaffe der Welt über den Haufen schoss.“
Irgendwie folgerichtig und dazu passend ist Tarantinos Antwort auf die Frage, ob es in seiner Kindheit denn auch irgendeinen Film gegeben habe, „den ich nicht ertragen konnte“: „Bambi.“ [Hervorhebung im Original – C.F.] Und warum? Wegen des Schocks, dass der Film durch den Tod von Bambis Mutter „eine so unerwartete Wendung ins Tragische nahm“.

Vielleicht muss eine mit Gewalt und Brutalität getränkte Dauerberieselung, wie sie Tarantino angedieh, bei weniger sensiblen Naturen als ihm nicht unbedingt zu jenem blutrünstigen Filmgeschmack und zu jenen „gewalttätigen Träumereien“ führen, die der Autor sich heute selbst bescheinigt. Doch bei ihm war dies – ausweislich seines bisherigen Œuvres – ganz offensichtlich der Fall.

Spekulationen übers Kino stellt Tarantino übrigens nur in einem einzigen, dann auch so betitelten Kapitel seines Buches an. 1976 hatte Martin Scorsese mit „Taxi Driver“ einen der „wichtigsten und einflussreichsten Filme […] des amerikanischen Kinos“ (Wikipedia) gedreht; 1977 nominiert für den Oscar als Bester Film. Für die noch kindhafte, damals erst 13-jährige Jodie Forster (erste Oscar-Nominierung als Beste Nebendarstellerin) war der Streifen die Einlaufkurve zu ihrer späteren Starkarriere, und Robert de Niro wurde ebenfalls für einen Oscar nominiert, als Bester Hauptdarsteller. Tarantino widmet seiner Analyse des Films ein ganzes Kapitel seines Buches, um im nachfolgenden seine Cinema Speculations darüber anzustellen, wie der Film wohl geworden wäre, hätte ihn statt Scorsese Brian De Palma (unter anderem „Carrie – des Satans jüngste Tochter“, 1976; „The Untouchables“, 1987; „Fegefeuer der Eitelkeiten“, 1990) gemacht, der das Drehbuch von Paul Schrader ebenfalls gelesen hatte. Da Tarantino die Filme beider Regisseure kennt und analysiert hat, ist dies der für Cineasten womöglich reizvollste Teil des gesamten Buches, das etwa in Gestalt wiederkehrender Aufzählungen von Kinofilmen der 1970er Jahre, die es nie über den großen Teich geschafft haben, auch seine ermüdenden Passagen hat. Und wem US-amerikanisches Kino überhaupt eher in Gestalt von Filmen wie „Jenseits von Afrika“ (1985) – etwas für Leute mit fadem Geschmack (O-Ton Tarantino) – zusagt, den könnte das Buch auch ziemlich abstoßen und langweilen.

Quentin Tarantino: Cinema Speculations (Übersetzer: Stephan Kleiner), Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 394 Seiten, 26,00 Euro (gebunden), 19,99 Euro (Kindle).