26. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2023

Man nannte sie Hoffnungsträger:
Modrow und Rakowski

von Holger Politt

Beide standen auf dem Höhepunkt ihrer politischen Laufbahn für den zu vollziehenden Abbruch, nicht für Aufbruch, denn das gesellschaftliche System, dem sie dienten, war ans bittere Ende gelangt. Hans Modrow, 95-jährig am 10. Februar verstorben, war der letzte sozialistische Ministerpräsident der DDR, der in den stürmischen Herbsttagen 1989 in einer unverkennbaren Notlage ans Regierungsruder gerufen worden war. Mieczysław F. Rakowski (1926-2008) übergab im Sommer 1989 nach verlorener Wahl als letzter Ministerpräsident der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) das Regierungsgeschäft an den „Solidarność“-Vertreter Tadeusz Mazowiecki, der als erster vollzog, was für das gesamte sowjetisch ausgerichtete System schließlich zum Schicksal wurde. Modrow wie Rakowski galten in ihren Formationen als sogenannte Hoffnungsträger, kamen aber erst richtig zum Zuge, als die Messen längst gelesen waren.

Hier indes enden die auffallenden Parallelen im Lebenslauf der beiden, denn Rakowski empfahl seiner Partei am Schluss, sich ohne Wenn und Aber aufzulösen, sich neuzugründen und vor allem – eingedenk der umfassenden Niederlage – neu zu beginnen. Modrow hingegen gilt als derjenige, der sich entschieden gegen die Auflösung der SED aussprach, dem der Namenswechsel in SED-PDS (später nur PDS) ausreichend für den erforderlichen Wechsel schien, weil er überhaupt die große Hoffnung für den Sozialismus nicht billig aufgeben wollte.

Beide hatten sich erst spät persönlich kennengelernt – eine längere Gelegenheit bot sich am 4. Dezember 1989 in Moskau. Der Politisch Beratende Ausschuss der Mitgliedsländer des Warschauer Vertrags tagte, Modrow leitete die DDR-Delegation. Am Tag zuvor war in Berlin das Zentralkomitee der SED unter Einschluss des Politbüros zurückgetreten, in Pausengesprächen hieß es auf den Fluren in Moskau bereits, dass mit der DDR die „Festung des Sozialismus gefallen“ sei. Rakowski sollte nach dem Willen Mazowieckis gar nicht mehr zur polnischen Delegation gehören, er hatte keinen entsprechenden Staats- oder Regierungsposten mehr, war lediglich noch der Erste Sekretär des Zentralkomitees der PVAP. Diplomatisches Bemühen aus Moskau räumte ihm doch noch die Möglichkeit zur Teilnahme ein, sein politisches Tagebuch gibt Auskunft über das Auftreten des DDR-Regierungschefs: „Modrow führte aus, dass der Kampf um eine Stabilisierung jetzt die wichtigste Aufgabe in der DDR sei. Er fügte hinzu, erst seit drei Wochen Ministerpräsident zu sein; und dass er sich vor allem darauf konzentriere, Stabilität und die Umsetzung der Wirtschaftsreform zu erreichen. Anschließend informierte er, sich Mitte Dezember mit Bundeskanzler Kohl zu treffen, mit dem er vor allem die wirtschaftlichen Beziehungen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit auf der Grundlage zweier deutscher Staaten erörtern werde. In der DDR gebe es jedoch Kräfte, die eine Konföderation, zumindest eine wirtschaftliche, forderten. Wojciech Jaruzelski warf ein, dass wir in Polen das deutsche Problem aufmerksam verfolgten. Das sei wegen der Grenze eine für Polen empfindliche und ernste Frontlinie. Konföderation sei auch für Polen eine beunruhigende Sache.“

Im Herbst 2005 kam es in Warschau zu einer der letzten Begegnungen zwischen Modrow und Rakowski. Beide nahmen als Zeitzeugen an einer Tagung zu den deutsch-polnischen Beziehungen nach 1945 teil. Modrow verwies aus der Sicht des einstigen SED-Bezirkssekretärs in Dresden auf den Vertrag von Zgorzelec 1950 (über die Oder-Neiße-Grenze), auf die enorme Verantwortung gegenüber dem östlichen Nachbarn der Deutschen, die seinerzeit von der jungen DDR-Regierung getragen worden sei. Dieses entschiedene Eintreten zur endgültigen Regelung der Grenzfrage habe sich vor der Geschichte bewährt, was die Entwicklung nach 1990 eindrucksvoll bestätigt habe. Zugleich verwies er auf die vielen guten Beispiele einer erfolgreichen Zusammenarbeit über die Grenze hinweg, die weniger angenehmen Erfahrungen oder Schattenseiten insbesondere in den 80er Jahren sparte er aus.

Rakowski seinerseits wies vor allem auf den Dezember 1970 hin, auf die Unterzeichnung des Vertrages zwischen Polen und der Bundesrepublik, auf den Besuch Willy Brandts in Warschau. Dies sei ein Meisterstück polnischer Diplomatie gewesen, lange genug hätten Moskau und Ostberlin übrigens versucht, einen solchen Vertrag zu verhindern: Der sei überflüssig, denn die Grenzfrage sei 1950 ja ausreichend geregelt worden. In diplomatischen Gesprächen sei der polnischen Seite zu verstehen gegeben worden, dass die in der DDR stationierten Sowjettruppen zudem einen ausreichenden Schutz auch für die Oder-Neiße-Grenze gewährten. Rakowski verwies darauf, dass ohne den Dezember 1970 der ganze Prozess der deutschen Einheit womöglich anders oder weitaus komplizierter verlaufen wäre, denn so habe eine vertraglich auch von Bonn anerkannte Grenze bestanden, an der Bundeskanzler Kohl, als er 1990 noch einmal kurz versucht habe, die Grenzfrage aufzumachen, zurückziehen musste.

Am Rande der Tagung lud Rakowski den Gast aus Berlin zu einem Besuch in die Redaktionsräume der linksgerichteten Monatszeitschrift Dziś (Heute) ein, die er als Chefredakteur im Oktober 1990 ins Leben gerufen hatte. Während des Gesprächs ging es um die Entwicklung der PDS zur neuen Linkspartei, nachdem die Bundestagswahlen im September 2005 für die Partei überaus erfreulich verlaufen waren, auf der anderen Seite um die Perspektiven der Linkskräfte in Polen nach deren empfindlicher Niederlage bei den Parlamentswahlen ebenfalls im September 2005 und angesichts des bevorstehenden Ausscheidens Aleksander Kwaśniewskis aus dem Präsidentenamt.

Rakowski erklärte, dass für ihn der alte Sozialismus eine abgeschlossene und gescheiterte Sache sei, ein Thema eher für künftige Historiker, denn Gegenwart wie Zukunft setzten nun auch für linke Parteien ganz andere Herausforderungen. Er kam auf ein Gespräch mit Michail Gorbatschow zurück, der ihn im Herbst 1989 nach der Zukunft des Sozialismus gefragt habe und zur Antwort bekam, dass Sozialismus vielleicht eine Zukunft habe, nicht aber diejenigen, die ihn bislang zu verantworten hätten. Modrow hingegen erwähnte Tschechien, die erfolgreiche Entwicklung der dortigen KSČM, auch die erfreuliche Verankerung der PDS in Ostdeutschland, die Perspektive der nun zusammenfindenden Linkspartei. Und außerdem, so Modrow mit unerschütterlichem Optimismus, sei – dabei auf China, Vietnam sowie Kuba verweisend – im Weltmaßstab vielleicht doch noch gar nicht alles entschieden.