26. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2023

„Nördlich der Stadt“ – Jürgen Rennert wird 80  

von Roland Lampe

Die garstigen Äcker, nördlich der Stadt, brechen auf
Unter der Mittagsonne im Juli.
Das Geziefer hat seine Zeit. Die Blätter
Des Birnbaums verbrennen am lebendigen Leibe und
Der Abend kommt nicht.

 

So lautet eine Strophe aus Jürgen Rennerts Gedicht „Der Salon“, mit dem er Anfang der 1960er Jahre die melancholische, fast resignative Stimmung einzufangen versuchte, in der er sich damals in Hohen Neuendorf am Berliner Stadtrand befand. Am 12. März begeht der Dichter, der jetzt in der Prignitz lebt, seinen 80. Geburtstag.

Jürgen Rennert wurde 1943 in Berlin-Neukölln geboren. Er wuchs bei seiner Großmutter auf – Neukölln lag damals im amerikanischen Sektor. Im September 1952, nach dem Tod der Großmutter, kam er als Neunjähriger zu seinen Eltern nach Hohen Neuendorf. Die komplizierte Situation jener Zeit schilderte er in seiner Erzählung „Herzl & Herzel“: Der Vater, seinerseits Sohn eines deutschjüdischen Vaters mit „Ariernachweis“, der ihm in der Nazizeit das „Durchkommen“ gesichert hatte, seit 1946 Mitglied der SED, schlug sich als Maler und Gerüstbauer durch. „Ich weiß noch, wie es mich genierte, wenn ich ihn mit dem Leiterwagen durch den Ort ziehen sah, Richtung Hennigsdorf, um in Öfen zu verschwinden, die irgendeines Innenanstrichs bedürftig waren“, heißt es in der Erzählung. Später, als der Vater „Angestellter der Werbeabteilung von ‚HO-Stalinallee’ war, ging es aufwärts mit uns“.

Auf der anderen Seite die „sanguinisch hochgespannte“ Mutter, die in der Verwaltung einer Hygieneinspektion arbeitete. Sie fühlte sich nur in Kirchenkreisen wohl und sehnte sich nach dem Westen, „allein mein Vater ließ sich zu keinem Wechsel bewegen“.

Ständig gab es Streit zwischen den Eltern, den der Junge – „hellwach unter den verklumpten Daunen meines Eisenbettes im angrenzenden Wohnzimmer kauernd und lauernd“ – miterlebte, was „hinlangt als Begründung für manchen Fatalismus.“ Er schämte sich ihrer Ehe, „die sich unentwegt lauthals und wie zerrüttet gebärdete“. Und trotzdem ist die Liebe zu Vater und Mutter noch viele Jahre später – die Erzählung erschien 1986 – in jeder Zeile spürbar.

Die Familie wohnte in einem schönen alten Haus im sogenannten Mädchenviertel. „Hier vollzog sich ein wesentlicher Teil meines familiären Lebens“, erinnert sich Jürgen Rennert in einem Gespräch. „Hier starb 1961 meine an einem Gehirntumor erkrankte Mutter im Alter von 41 Jahren. Hier wohnten ich und meine erste Frau Christa, die ich 1963 geheiratet hatte, mit meinem Vater zusammen, bis er 1974 starb. Und hier pflegte ich auch meine an Brustkrebs erkrankte Frau, die 1989 verstarb.“

Von 1959 bis 1962 absolvierte Rennert eine Ausbildung zum Schriftsetzer in der Druckerei Walter Säuberlich in der Berliner Straße. Anschließend arbeitete er anderthalb Jahre als Hilfspfleger im Hohen Neuendorfer Krankenhaus. „Dies schien mir sinnvoll, da ich auf Grund meiner Verweigerung des aktiven Wehrdienstes bis zum Erlass der Bausoldatenregelung 1964 mit einer Inhaftierung rechnen musste.“

1964 nahm er eine Tätigkeit als Werbetexter und Werberedakteur im Verlag „Volk und Welt“ auf, bis er im Oktober 1975 schließlich den Sprung in die freiberufliche Existenz eines Schriftstellers und Übersetzers wagte.

Mit seiner zweiten Frau Johanna Rennert-Mönch, die er 1994 geheiratet hatte, zog er von Hohen Neuendorf nach Berlin-Kreuzberg. Er selbst begründet das so: „Die Emmastraße 5 verließ ich endgültig 1995, nachdem im Verlauf der Rückübertragungsansprüche des vereinigten Deutschlands das bis dahin kommunal verwaltete und von zwei Familien bewohnte Haus in die Hände eines entfernten Verwandten des im bayrischen Rosenheim verstorbenen Vorbesitzers kam, der es zu veräußern gedachte und schließlich veräußert hat.“

Von 1990 bis 2005 war er Programmplaner und stellvertretender Leiter des im Berliner Dom ansässigen Kunstdienstes der Evangelischen Kirche. Mit Jalda Rebling und Stefan Schreiner begründete er 1987 die Tage der jiddischen Kultur in Ost-Berlin, die seitdem wichtige Impulse für die Beschäftigung mit jüdischer Kultur geben.

Die Hohen Neuendorfer Zeit war eine ungemein produktive für den Dichter, hier entstanden die Gedichtbände „Märkische Depeschen“ (1976) und „Hoher Mond“ (1983), die Prosa- beziehungsweise Essaybände „Ungereimte Prosa“ (1977) und „Angewandte Prosa“ (1983) sowie die Kinderbücher „Wie der Elefant entstand“ (1980) und „Emma, die Kuh ؘ– und andres dazu“ (1981).

Jürgen Rennert war aber auch als Herausgeber, Übersetzer und Nachdichter tätig. 1979 gab er das Buch „Auch im Herbst blühen die Bäume“ des jiddischen Dichters Mark Rasumny heraus und versah es mit einem Nachwort, 1981 übertrug er Scholem Alejchems „Schir-ha-Schirim – Roman einer Jugend“ aus dem Jiddischen ins Deutsche. Nachdichtungen gibt es von ihm unter anderem aus dem Tschechischen, Russischen und Ungarischen. Daneben suchte er immer wieder den Dialog mit bildenden Künstlern, so in dem Essay „Märchen von einer, die auszog, das Leben in Bildern zu fangen“ (2006) und in verschiedenen Video-Dokumentationen.

Auf die Frage, wie er zur Literatur kam, berichtete Rennert in der „Ungereimten Prosa“ von seinem Deutschlehrer: „Er hieß Hermann Ochsen und ist, ohne dass ich es ihm je gestanden hätte, der große Ermutiger meiner ersten Versuche gewesen. Er vermittelte uns in der fünften Klasse die Bekanntschaft Gottfried Kellers und interpretierte den Satz ‚Hilf dir selbst, so hilft dir Gott‘ mit solch greifbarer Eindringlichkeit, dass ich nicht mehr zu sagen weiß, ob es nicht einzig nur jene Schulstunde war, der ich den befreienden Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten des einzelnen verdanke.“

Seine Gedichte versteht er als „genaue, zumeist auf einen ertragbaren und überzeugenden Reim gebrachte Stenogramme“ eigener „Empfindungen, Ansichten und Einsichten“. Er sieht sich selbst als Autor, für den „anstelle von geographisch bestimmbarer Heimat“ die orthodox-protestantische Tradition, in der er aufwuchs, und die jüdische Tradition, der er sich mehr und mehr annäherte, „zum realen Raum“ wurde. Und er mahnt uns: „Eine Gesellschaft, der die Sprache zerstört wird, die ihre Sprache vernachlässigt, verliert die Fähigkeit, sich selbst zu begreifen.“ (Zitate aus: „Angewandte Prosa“)

Die Brandenburger Jahre haben viele Spuren in seinem Werk hinterlassen. Neben „Herzl & Herzel“ und dem eingangs erwähnten Gedicht „Der Salon“ finden wir etliche andere, vor allem lyrische Texte, die einen Bezug zu Brandenburg haben, dort angesiedelt sind oder sein könnten. Man lese nur den Anfang des Gedichtes „Hoher Mond“ in dem gleichnamigen Gedichtband, um sich sogleich in eine brandenburgische Landschaft versetzt zu sehen:

Kalter März. Hoher Mond. Die verfluchte,
Erwünschte Klarheit hockt klamm
Und bläulich schwarz auf den Zäunen
Direkt beim Eisenbahndamm.

 

Und in der ersten Strophe der „Märkischen Depeschen“ heißt es:

Ruhlos wälzt der Sand –
Märkischer, kiefernbestanden –
Jedwede Zeit. Und sie tropft
Harzig schwer in den Landen.

 

Nach der politischen Wende schrieb Jürgen Rennert weiterhin Gedichte, gesammelt in „Verlorene Züge“ (1990), „Noachs Kasten“ (1996) und „Hiobs Botschaft“ (2008). 2023 erscheinen seine „Hohenloher Sonette“ zu Bildern der Malerin Feodora Hohenlohe, die ihn 2008 porträtierte.

In der Prignitz, wo er mit seiner Partnerin seit 2014 in dem kleinen Dorf Krumbeck nahe Putlitz lebt, ist Rennert ein bekannter Mann. Im Laufe der Jahre war er organisierend und moderierend an einer Vielzahl von Veranstaltungen beteiligt, so an der Reihe „Jiddisches“ im „Judenhof“ zu Perleberg, an Lesungen mit Putlitz-Stipendiaten und an den „Krumbecker Begegnungen“. Seine Texte stellte er regelmäßig bei den Gottfried-Benn-Tagen in Mansfeld vor, wiederholt wurden seine Werke durch andere Künstler aufgeführt, so im Juni 2021 „Noachs Kasten“ durch die Theatergruppe der Kirchengemeinde Putlitz und im September 2022 seine Kindergedichte durch den Liedermacher Frank Viehweg, der sie vertonte.

Roland Lampe (Jahrgang 1959) ist gelernter Bank- und Bürokaufmann. Von 1982 bis 1985 studierte er am Institut für Literatur in Leipzig. Er lebt in Berlin Wedding.