26. Jahrgang | Nummer 2 | 16. Januar 2023

Wie immer

von Henry-Martin Klemt

„… denn Chaos ist dort,
wo ein Gedanke fehlt in der Ordnung …“
(Jewgeni Jewtuschenko: „Mutter und die Neutronenbombe“)

Wie immer trugen wir
im Herzen eine Zeit, die es
nicht gab, nicht einmal, die wir
sahen, wie immer, mit eigenen
Augen, gab es. Aber wir sangen,
bereit, uns zu werfen in die Waag-
schale, tot oder lebendig, wie
immer, aber auch die gab es
nicht. So fielen wir aus einer
Zeit in die andere, stießen
zusammen mit denen, tot
oder lebendig, die für alle
Brot gesät hatten und Staub
geerntet, wie immer, und wir
erkannten einander. Vielleicht
stürzten, vielleicht stiegen wir, es
war nicht wichtig. Wir selbst
waren das Brot, das gegessen, der
Staub, der fortgewischt wurde.

Langsam gewöhnten sich unsere
Augen an diese ununterbrochene
Bewegung, gewöhnte sich unser
Herz an die Zeitlosigkeit, in der wir
nie müde wurden. Unsere Lippen
verweigerten den Kuß, den un-
zeitigen, unsere lidlosen Augen
brannten wie Feuer in liedlosen
Nächten. Wie immer erwarteten wir
den Moment des Aufschlages auf
dem Grund unter oder über
uns, oder den Aufstand des
Herzens, der Augen, der Lippen, der
kommt, wie immer, Aufstand
der Küsse,
des Brotes,
des Staubs.

 

(Dezember 2022)