26. Jahrgang | Nummer 3 | 30. Januar 2023

Proust und kein Ende

von Mathias Iven

Ob man diese sogenannten „Fünfundsiebzig Blätter“ nun als den „Grundstein“ für Prousts Monumentalwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ sehen will oder nicht – ein Sensationsfund sind sie allemal. Man wusste zwar spätestens seit 1954 von der Existenz dieses Konvoluts – der Verleger Bernard de Fallois hatte im Vorwort zur Edition von „Contre Sainte-Beuve“ darauf aufmerksam gemacht und dort auch den irreführenden Titel eingeführt –, doch erst jetzt, nach dem Tod von Fallois und der Sichtung seines umfangreichen Proust-Archivs, können wir diese geradezu zu einem Mysterium gewordenen Texte lesen. Im Übrigen fanden sich in diesem Archiv auch die Manuskripte früher Erzählungen, von Luc Fraisse 2019 unter dem Titel „Der geheimnisvolle Briefschreiber“ veröffentlicht (siehe Blättchen 1/2022).

Das Spannende an den von Proust möglicherweise schon Ende 1907 begonnenen und im Herbst 1908 zur Seite gelegten „Fünfundsiebzig Blättern“ (im Fallois-Archiv unter der Bezeichnung „Dossier 3“ geführt) ist die Tatsache, dass wir hier erstmals auf Motive und längere, teilweise schon ausformulierte Textpassagen stoßen, die erst Jahre später in der einen oder anderen Form Teil von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ wurden. Die Herausgeberin Nathalie Mauriac Dyers schreibt dazu: „In den ,Fünfundsiebzig Blättern‘ entfaltet sich eine Kindheits- und Jugenderzählung, die vor allem abhebt auf die Bedeutung der Affekte, der Gefühle, der sinnlichen Erfahrung, der Phantasie und des Traumes als Zugang zur Welt und zur Erkenntnis.“ Zudem finden sich in zwei der Texte Anspielungen auf Ausflüge, die Proust im Sommer und im Herbst 1907 während seiner Aufenthalte in der Normandie unternommen hat.

Wegen ihrer Bedeutung im Entstehungsprozess hat Nathalie Mauriac Dyers, deren hervorragendes Nachwort man unbedingt parallel lesen sollte, neben den „Fünfundsiebzig Blättern“ noch siebzehn weitere Manuskripte aus Prousts Nachlass für die vorliegende Edition ausgewählt. Darunter das im September 1895 entstandene „Manuskript von Belle-Île“, das die älteste bisher bekannte Version der Gute-Nacht-Kuss-Szene enthält, sowie das „Es gibt eine bretonische Legende, die besagt …“ überschriebene Fragment, in dem sich die früheste Fassung der Madeleine-Episode findet.

*

Von all diesen Vorarbeiten und philologischen Feinheiten wusste Roland Barthes nichts. Ob es etwas an seiner Sicht auf Proust geändert hätte, sei dahingestellt. Fast ein halbes Jahrhundert lang hat sich der 1980 nach einem Unfall verstorbene französische Philosoph mit dessen Werk beschäftigt. Bereits 1932 erklärte Barthes seinem Schulfreund, dem späteren Diplomaten Philippe Rebeyrol: „Viele Leute finden ihn langweilig, weil seine Sätze sehr lang sind: Proust ist im Grunde ein Prosadichter, das heißt, bei einer einfachen prosaischen Handlung analysiert er sämtliche Empfindungen, sämtliche Erinnerungen, die diese Handlung in ihm weckt“.

Drei Jahrzehnte später, im März 1966, veröffentlichte Barthes seine erste, Proust gewidmete Arbeit. In Auseinandersetzung mit der kurz zuvor erschienenen französischen Ausgabe von George D. Painters Proust-Biographie stellte er darin fest: „Es ist nicht das Leben Prousts, das wir in seinem Werk wiederfinden, es ist sein Werk, das wir im Leben Prousts wiederfinden.“ Dieses Werk, wird er im Jahr darauf ausführen, „beschreibt einen ungeheuren, unaufhörlichen Lernprozeß“, der durch zwei Momente bestimmt ist: „eine Illusion und eine Enttäuschung“. Erst „aus diesen beiden Momenten entsteht die Wahrheit, das heißt das Schreiben“. Und in den Materialien für eine Vorlesung, die er 1969/70 in Rabat gehalten hat, fasste er schließlich zusammen: „Die Suche nach der verlorenen Zeit“ „ist die Geschichte eines ,Schreibens‘: Sie ist die Erzählung von der schwierigen Entstehung eines Buches, das wir nicht kennen werden, da das von Proust geschriebene Buch dort innehält, wo es dem E[rzähler] endlich möglich wird, das fiktive Buch zu schreiben.“

Besonders intensiv hat sich Barthes mit Proust in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre beschäftigt. Da ist zum einen sein Auftritt in der vom Hörfunksender France Culture im Oktober/November 1978 ausgestrahlten dreiteiligen Sendereihe „Ein Mensch, eine Stadt“ zu nennen. Die im Nachgang erstellte, 75 Seiten umfassende Transkription zu lesen, ist – obwohl einige biographische Aussagen durch die Forschungen der letzten Jahre revidiert wurden – immer noch ein Genuss.

In seiner am 19. Oktober 1978 am Collège de France gehaltenen Vorlesung, die den programmatischen Titel trug: „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“, stellte Barthes seinen Zuhörern eingangs die herausfordernde Frage: „Heißt das, daß ich Ihnen eine Vorlesung ,Über‘ Proust anbiete?“ Provokant antwortete er: „Ja und nein. Wenn es Ihnen recht ist, wird es heißen: Proust und ich. Welche Anmaßung!“ Doch worum ging es ihm eigentlich? „Denn indem ich Proust und mich selbst in eine Reihe stelle, gebe ich keineswegs zu verstehen, daß ich mich mit diesem großen Schriftsteller vergleiche, wohl aber, daß ich mich, auf gänzlich andere Weise, mit ihm identifiziere: eine Vermengung in der Praxis, kein Werturteil.“ Und weiter führte er aus: „Ich identifiziere mich nicht mit dem renommierten Autor eines monumentalen Werks, sondern mit dem bald sich abquälenden, bald überschwenglichen, aber jedenfalls bescheidenen Arbeiter, der sich eine Aufgabe gestellt hat, der er vom Anbeginn seines Vorhabens einen absoluten Charakter verliehen hat.“ Verständlich wird solch eine Bemerkung nur, wenn man weiß, dass im Jahr zuvor Barthes Mutter gestorben war, er also ein ähnliches Erlebnis wie Proust im Jahre 1905 hinter sich hatte. Im zweiten Teil seines letzten Buches „Die helle Kammer“ (1980) wird sich Barthes ihr noch einmal über die Betrachtung eines Kindheitsfotos nähern.

Alles in allem hat Barthes zu Lebzeiten nur wenig über Proust veröffentlicht. Es waren gerade einmal fünf Arbeiten mit nicht viel mehr als vierzig Seiten. Um so verdienstvoller ist es, dass Bernard Comment den vorliegenden Band nicht nur um mehrere unveröffentlichte Manuskripte ergänzt hat, sondern dass er noch dazu eine nicht unbeträchtliche Auswahl aus den nahezu dreitausend Proust gewidmeten Karteikarten aufgenommen hat. Die von Barthes darauf notierten Zitate und Einfälle bildeten zum einen den Grundstock seines Schreibens, seiner Bücher und seiner Lehrveranstaltungen. Und sie zeigen zum anderen, wie die Lektüre auch Barthes trotz aller Faszination so manches Mal verzweifeln ließ: „Bin kein bedingungsloser (oder manischer) Anhänger von Proust: ich finde ‚Eine Liebe Swanns‘ (und den Erzähler und Albertine) ungenießbar, von verzweifelter Weitschweifigkeit: ich blättre und blättre die Seiten um: ein von einer Furie der Schwatzhaftigkeit, einem eintönigen Gesäusel ohne Höhen und Tiefen gepackter Autor.“

Marcel Proust: Die fünfundsiebzig Blätter und andere Manuskripte aus dem Nachlass. Herausgegeben von Nathalie Mauriac Dyer, mit einem Vorwort von Jean-Yves Tadié, aus dem Französischen von Andrea Spingler und Jürgen Ritte, Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 301 Seiten, 28,00 Euro.

Roland Barthes: Proust – Aufsätze und Notizen. Herausgegeben von Bernard Comment, aus dem Französischen von Horst Brühmann und Bernd Schwibs, Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 343 Seiten, 28,00 Euro.