25. Jahrgang | Nummer 1 | 3. Januar 2022

Ein Rückblick auf das Proust-Jahr 2021

von Mathias Iven

Beginnen wir mit einem Zitat: „Alles, was zur Verbesserung des Menschen führt, zum Wachstum seines körperlichen und seelischen Wohlbefindens, zu seiner somatischen und geistigen Betätigung, erwächst aus dem unmittelbaren und legitimen Bereich der Hygiene.“ – Eine unbestritten richtige und wichtige Feststellung, die nicht erst in diesen Tagen formuliert wurde. Man findet den Satz im Vorwort des 1877 veröffentlichten Buches „Traité d’hygiène publique et privée“, geschrieben hat ihn Adrien Proust.

Der Vater von Marcel stammte aus Illiers, einer kleinen Stadt im Département Eure-et-Loire, rund einhundert Kilometer von Paris entfernt. Nach der Schule besuchte er zunächst das Priesterseminar, danach nahm er ein Medizinstudium auf und erwarb sich schon in jungen Jahren Verdienste auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung. Überzeugt von der Überlegenheit hygienischer Maßnahmen gegenüber pharmazeutischen Therapien, widmete sich Adrien Proust fast fünf Jahrzehnte lang diesem Thema. Das wichtigste Resultat seiner Untersuchungen war die uns gerade jetzt täglich vor Augen stehende Erkenntnis, dass die mit der Veränderung unserer Lebensgewohnheiten einhergehende Mobilität zu den größten Risiken der Seuchenverbreitung gehört.

Mit Lothar Müllers herausragender Studie „Adrien Proust und sein Sohn Marcel“ liegt jetzt erstmals ein Buch vor, das die unermüdliche und bis heute einflussreiche Arbeit von Marcels Vater entsprechend würdigt. Ausgehend von dessen Schriften versteht Müller diese als „ein Werk, das dem des Sohnes vorangeht“. In Ermangelung anderer überlieferter Zeugnisse, die die Vater-Sohn-Beziehung tiefgründiger beleuchten könnten, versucht er vor allem „den Kontrast der Werke und ihre Berührungspunkte“ herauszuarbeiten.

Beispielhaft hebt er hier zwei Reden hervor, die Adrien Proust kurz vor seinem Tod gehalten hat. Zum einen handelt es sich um die Festrede vom 7. Juni 1903 anlässlich der Einweihung des Pasteur-Denkmals in Chartres, zum anderen geht es um die Ansprache bei der Verleihung der Schulpreise der École primaire supérieure de garçons, gehalten am 27. Juli 1903 in Illiers. Letztere, ein „Plädoyer, mit dem er die besten Schüler seiner Geburtsstadt für die moderne Wissenschaft begeistern will, genauer: für die Hygiene“, ist möglicherweise als Gemeinschaftsarbeit von Vater und Sohn entstanden. Denn, so Müller: „Die Rede Adrien Prousts in Illiers enthält eine kleine poetische Anthologie, deren Zusammenstellung man eher dem Sohn als dem Vater zutraut. Und sie enthält Prosa-Passagen, die wie Stilübungen von Marcel Proust auf dem Weg von seiner Ruskin-Übersetzung zur Verwandlung von Illiers in das Combray seines Romans wirken.“

Was umgekehrt den Einfluss des Vaters betrifft, so ist da nicht nur die ausgeprägte Angst vor Krankheitserregern und das daraus resultierende Reinlichkeitsbedürfnis, es sei auch auf das in Marcels Romanwelt eingegangene, umfangreiche medizinische Wissen verwiesen, das sich ohne die Bibliothek von Adrien Proust kaum denken lässt.

Ein empfehlenswertes Buch, das ungewollt auch unsere jetzigen pandemischen Verhältnisse in den Blick nimmt.

Lothar Müller: Adrien Proust und sein Sohn Marcel – Beobachter der erkrankten Welt, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021, 221 Seiten, 22,00 Euro.

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Reynaldo Hahn wurde 1874 in Caracas geboren, drei Jahre darauf kam er mit seinen Eltern und Geschwistern nach Frankreich. Schon früh wurde sein musikalisches, die Zuhörer einnehmendes Talent entdeckt. Es gab erste Auftritte in Pariser Salons, mit acht Jahren begann er zu komponieren. Später studierte er bei Massenet, Gounod und Saint-Saëns am Pariser Conservatoire de Musique. Als er Proust am 22. Mai 1894 bei einer Soirée im Haus der Malerin Madeleine Lemaire kennenlernte, stand seine erste, auf Tahiti spielende Oper „L’île du rêve“ kurz vor der Vollendung.

Zwar galt Homosexualität in Frankreich seit 1792 nicht mehr als ein Verbrechen, doch die gesellschaftliche Wahrnehmung empfand die Homosexuellen „als Anomalie im gesellschaftlichen Gefüge“. Madeleine Lemaire war frei von solcherlei Vorurteilen. Im Sommer 1894 lud sie Proust und Hahn auf das östlich von Paris gelegene Schloss Réveillon ein. Für die beiden wurde es eine unvergessliche Zeit. „Jene Tage in Réveillon“, sollte Hahn später schreiben, „werden mir als der Moment in meinem Leben in Erinnerung bleiben, in dem ich die Wirklichkeit fast völlig vergaß.“ Und Proust gestand seiner Haushälterin Céleste Albaret, dass er dort bezaubernde Wochen „verbracht [habe], die – wie er sagte – zu den schönsten [s]einer Jugend gehörten“.

Auch im darauffolgenden Jahr erhielten sie eine Einladung von Madeleine Lemaire. Im August 1895 wohnten Proust und Hahn für drei Wochen in deren Haus in Dieppe. Von dort ging es weiter in die Bretagne. Nach einem Abstecher auf die größte bretonische Insel, die südlich von Lorient gelegene Belle-Île-en-Mer, bezogen sie für mehrere Wochen ein Quartier in dem kleinen Fischerdorf Beg-Meil.

Zurück im Alltag kam es immer wieder zu Unstimmigkeiten, zumeist ausgelöst durch Prousts Misstrauen und Eifersucht. Doch auch Hahn war nicht ganz unschuldig an dem sich abkühlenden Verhältnis. Seine gegenüber Madame Lemaire geäußerte Absicht, Proust „gern ein wenig [zu] festigen, ihn den negativen Einflüssen, dem nutzlosen Leben [zu] entreißen, zu dem er sich gerne hinreißen lässt“, stieß bei diesem auf wenig Verständnis. Langsam entfernten sie sich voneinander und blieben doch zeitlebens miteinander verbunden. Als Proust im Sterben lag, war Hahn bei ihm und redete dem Kranken ins Gewissen: „Ich weiß, dass niemand irgendwelches Gewicht bei Ihren Entschlüssen hat und dass ich nichts ausrichten kann in Hinblick auf das, was ich für vernünftig und begrüßenswert für meinen teuersten Freund halte, für eine der Personen, die ich am meisten geliebt habe in meinem Leben.“ Der Appell zeigte keine Wirkung …

Die in Rom lebende italienische Journalistin und Schriftstellerin Lorenza Foschini, die 2011 eine nahezu romanhafte Reportage über den von Proust besessenen Sammler Jacques Guerin vorgelegt hat, befasst sich speziell mit den Anfängen der von Höhen und Tiefen geprägten, fast drei Jahrzehnte währenden Beziehung zwischen Marcel Proust und Reynaldo Hahn. Unabhängig von dieser sehr fokussierten Herangehensweise sollte man dieses Buch dennoch parallel zu der seit kurzem auch auf Deutsch vorliegenden und kongenial von Bernd-Jürgen Fischer übersetzten Korrespondenz zwischen Proust und Hahn lesen.

Lorenza Foschini: „Und der Wind weht durch unsere Seelen“. Marcel Proust und Reynaldo Hahn – Eine Geschichte von Liebe und Freundschaft, aus dem Italienischen von Peter Klöss, Nagel & Kimche, München 2021, 237 Seiten, 22,00 Euro.

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Als das schmale Bändchen im Herbst 2019 in die französischen Buchhandlungen kam, sprach man von einer kleinen Sensation. Im Privatarchiv des 2018 verstorbenen Verlegers Bernard de Fallois hatte man bisher unbekannte Erzählungen von Marcel Proust entdeckt. Geschrieben wurden sie in den 1890er-Jahren, als Proust an seinem ersten Buch „Freuden und Tage“ arbeitete.

In allen Texten geht es um die Proust zeitlebens beschäftigende Frage der Homosexualität. Heutige Leser mögen sich wundern: Warum blieben diese Erzählungen so lange ungedruckt? Zumal sie, wie Luc Fraisse in seinem Vorwort ausführt, „nichts Schlüpfriges“ an sich haben, „nichts, was Voyeurismus provozieren könnte“. Mit Blick auf die 1896 veröffentlichten „Freuden und Tage“ – einer mehr als 50 Texte umfassenden Zusammenstellung der für ihn wichtigsten, zuvor zumeist in Le Banquet beziehungsweise in der Revue blanche publizierten Beiträge – und im Vergleich zu den jetzt vorliegenden, von Proust ausgesonderten Aufzeichnungen kommt Fraisse zu dem Urteil, „dass aus dieser Sammlung ein viel bedeutenderes Buch hätte werden können“. Hat sich Proust mit seiner Entscheidung also selbst geschadet?

Schon in diesen frühen Erzählungen, deren sprachliche Konstruktion noch weit davon entfernt ist, sich in den für ihn später so typischen Abschweifungen und Ausschmückungen zu verlieren, bezog sich Proust zumeist auf persönliche Erlebnisse und Lektüren. So verweist „In der Hölle“ auf Erfahrungen aus seiner Jugendzeit und die „Erinnerung eines Hauptmanns“ geht offenbar auf Prousts Militärdienst zurück, mit „Jacques Lefelde“ erinnert er an ein Kapitel von Stendhals „Über die Liebe“ und für die Erzählung „Das Bewusstsein, sie zu lieben“ stand Edgar Allan Poes Gedicht „Der Rabe“ Pate.

So spannend wie die Lektüre der Erzählungen, ist auch ein Blick in den von Luc Fraisse zusammengestellten und kommentierten Anhang. Unter dem Titel „An den Quellen von ,Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘“ findet sich, so Fraisse, „eine Reihe von Richtigstellungen und Neubewertungen dessen, was wir bisher wussten, nicht ohne gelegentliche Überraschungen“. Da geht es nicht nur um das Zustandekommen der uns heute selbstverständlichen Aufteilung der „Suche“ in sieben Bände, sondern auch um die Entwürfe des Anfangs von „Unterwegs zu Swann“, um die männlichen Vorbilder von Gilberte, die eigentlich ein kleiner Junge war, oder um die Geographie des Phantasieortes Balbec, die Proust auf sechs verschiedenen Plänen entworfen hat.

Ein Muss für alle, die in die Welt von Marcel Proust eintauchen wollen.

Marcel Proust: Der geheimnisvolle Briefschreiber – Frühe Erzählungen, hrsg. von Luc Fraisse, aus dem Französischen von Bernd Schwibs, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 174 Seiten, 28,00 Euro.

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Am 31. Mai 1919 erschien in der ersten Nummer der von Lucien Vogel gegründeten Zeitschrift Feuillets d’Art ein Beitrag von Jean Giraudoux, überschrieben: „Du côté de chez Marcel Proust“. Dabei handelte es sich – der Titel spielte darauf an – um eine Besprechung der kurz zuvor bei Gallimard veröffentlichten Neuauflage des ersten, 1913 herausgegebenen Bandes von Prousts im Entstehen begriffenen Monumentalwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Der Text des 1882 geborenen Schriftstellers und Diplomaten war, rein formal betrachtet, „weit entfernt von einer klassischen Rezension“. Reiner Speck, seit vier Jahrzehnten Präsident der Marcel Proust Gesellschaft, interpretiert Giraudouxs Artikel „als eine an Proust gerichtete persönliche Mitteilung […], die des Verfassers Bewunderung kundtun soll“.

Proust, der die Bücher des zehn Jahre Jüngeren bewunderte und ihn sogar für den Prix Goncourt empfahl, war zwar von dessen Ausführungen begeistert, sie verdrossen ihn aber auch. An seinen Bekannten Paul Morand, der ihn auf Giraudoux aufmerksam gemacht hatte, schrieb er: „Ich habe Tränen gelacht über den Artikel. Aber über mich, ehrlich gesagt, nichts Richtiges.“ Und ein paar Tage darauf hieß es in einem Brief an Jacques Porel, dass der Text durchaus „bezaubernd“ und „äußerst geistreich“ sei, zugleich aber „eine große Enttäuschung“ für ihn bedeute. Im Sommer 1921 wandte sich Proust schließlich an Giraudoux: „Ich lebe von meiner Bewunderung für Sie und könnte Ihnen heute ebenso gut wie jeden Morgen schreiben.“ Doch bereits nach wenigen Zeilen brach er ab. Der Brief blieb Fragment und sollte den Empfänger nie erreichen. Ob sich Proust und Giraudoux jemals begegnet sind – eine endgültige Antwort gibt es darauf (bis jetzt) nicht.

Jürgen Ritte und Reiner Speck ist es zu verdanken, dass Giraudouxs Würdigung nun auch dem deutschen Lesepublikum vorliegt. Eine zweisprachige, wunderschön ausgestattete bibliophile Edition vereint den Text der Erstausgabe von 1919 mit dem Faksimile des im Dezember 2015 von einem Pariser Antiquariat angebotenen und wenig später in die „Bibliotheca Proustiana Reiner Speck“ gelangten Manuskripts. Ein Buch, das kann man ohne Abstriche sagen, das in jede Proust-Bibliothek gehören sollte.

Am Ende seines Textes stellte Giraudoux die Frage: „Wollen Sie nicht endlich lesen, lesen, lesen … ?“ – Natürlich, denn ein weiteres Proust-Jahr liegt vor uns.

Jean Giraudoux: In Marcel Prousts Welt / Du côté de chez Marcel Proust. Herausgegeben, transkribiert, übersetzt, kommentiert und mit einem Essay versehen von Jürgen Ritte, Vorwort von Reiner Speck, Übersetzung der deutschsprachigen Texte Catherine Livet, Friedenauer Presse / Matthes & Seitz, Berlin 2021, 80 Seiten, 25,00 Euro.