Die Präsidentenwahl am 30. Oktober 2022 in Brasilien gewann Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva mit seiner Wahlallianz „Coligacao Brasil de Esperanca“ (Koalition der Hoffnung) mit 50,9 Prozent (60,3 Mio.), der scheidende Präsident Jair Bolsonaro kam auf 49,1 Prozent (58,2 Mio.) der Stimmen. Als Vizepräsident wurde Geraldo Alckmin gewählt. Die Wahl Lulas zum Präsidenten verhinderte einen Erfolg der Rechtskräfte.
Bolsonaros Politik gefährdete die Interessen der brasilianischen Eliten. Er verlor ihre Unterstützung, was den Wahlsieg der Koalition ermöglichte. In den Legislativen dominieren ultrarechte Kräfte. Präsident Lula setzt deshalb auf die Ausweitung der parlamentarischen Basis durch Abkommen mit „demokratischen“ rechten Parteien (MDB, PSD, Uniao Brasil). Diese vertreten Sektoren der Zivilgesellschaft und des Unternehmertums, die nicht PT-affin [PT – Partido dos Trabalhadores/Partei der Arbeiter], aber für die Wahlallianz sind. Lula erklärte, dass die kommende Regierung eine über „die PT hinausgehende“ sein wird. „Jetzt werden wir mit allen politischen Kräften reden, die Stimme, Repräsentativität und politische Bedeutung in diesem Lande haben.“
In der Transitionsphase wurden die Weichen für die kommende Regierung gestellt und Voraussetzungen für die Rücknahme von Gesetzen der Bolsonaro-Zeit geschaffen. Mitte Dezember 2022 verkündete der neue Chef der Präsidialkanzlei Rui Costa (PT, ehemaliger Gouverneur des Staates Bahia) die Zusammensetzung der Lula-Regierung. Die im Wahlkampf gegen Lula aufgestellte Kandidatin Simone Tebet (MDB) besetzt das Ministerium für Planung und Budget. Die von den Militärs akzeptierte Zivilperson als Verteidigungsminister ist der ehemalige Chef des Rechnungstribunals José Múcio, den Lula für zuverlässig hält (Teile der PT verlangen seine Absetzung, da er Bolsonaro als „Demokraten“ bezeichnete ). Mit der Ernennung Marina Silvas (Partei REDE), ehemalige Umweltministerin in einer Lula-Regierung, unterstreicht Lula die besondere Bedeutung einer neuen Umwelt- und Amazonaspolitik. Das Entwicklungsministerium übernimmt der Vizepräsident Geraldo Alckmin. Als ehemaliger Gouverneur des Staates Sao Paulo ist er Interessenvertreter der Paulistaner Bourgeoisie. Alckmin unterstützte im August 2016 mit den Parteien des Zentrums das impeachment gegen Präsidentin Dilma Rousseff.
Geschaffen wurden Ministerien für Frauen und indigene Völker. Insgesamt umfasst die neue Regierung 37 Ministerien. Zentrale, strategisch wichtige Positionen wurden mit Vertretern der PT besetzt, so die Präsidialkanzlei, das Finanzministerium und die Entwicklungsbank BNDES (insgesamt 12 Minister).
Brasilien beginnt mit der neuen Regierung einen Prozess der Redemokratisierung. Die Aufgaben, die vor der neuen Regierung stehen, sind immens: Sofortprogramm für die notleidende Bevölkerung – Kampf gegen Hunger und Arbeitslosigkeit (10 Prozent), Abbau des Einflusses der Ultrarechten, Wiederaufbau eines funktionierenden Staatsapparates, Bestimmung der nationalen Entwicklungsziele sowie Sicherung der nationalen Souveränität.
Die Formierung einer breiten Allianz um Lula zeigt die Widersprüchlichkeit und die Kompliziertheit der gegenwärtigen Situation. Teile des brasilianischen Kapitals erwarten Kompromisse Lulas. Teile der Linke sind beunruhigt, da sie mit Lula weitergehende Veränderungen erwarteten. Viel wird von den Fähigkeiten des Präsidenten Lula als politisch erfahrenen Politiker und Vermittler abhängen, wichtigen Sektoren der demokratischen Öffentlichkeit die Notwendigkeit dieser breiten Koalitionsregierung zu vermitteln.
Zur Einlösung des Wahlversprechens, jeder Familie 600 Reais, einschließlich 150,00 für Kinder zu zahlen, musste die Verfassungsergänzung Nr. 95/2016 der Regierung Temer (2017), wonach öffentliche Sozialausgaben bis ins Jahr 2037 (Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Soziales) gedeckelt werden, umgangen werden. Dazu wurde ein „Vorschlag zur Verfassungsänderung“ vom Team des Präsidenten Lula in Senat und Kongress eingebracht, mit dem die Finanzierung außerhalb des Deckelung des Budgets in Höhe von 150 bis 175 Mrd. Reais (zirka 35 Mrd. US-Dollar) ermöglicht wird. Die Abstimmungen wurden als erster Testfall für die neue Regierung angesehen. Beide Kammern stimmten mit Veränderungen (Beschränkung auf ein Jahr) zu, womit Lula einen ruhigeren Beginn seines Mandats erreichte.
Allerdings war diese Ruhe trügerisch. Am 8. Januar stürmten Tausende Bolsonaristen den Präsidentenpalast, das Abgeordnetenhaus und das Oberste Gericht in Brasília. Staatseigentum wurde zerstört und Teile des UNESCO-Weltkulturerbe auf dem Platz der „Tres Poderes“ (der „Drei Gewalten“) verwüstet. Die ultrarechten Kräfte handelten gewalttätig und beschädigten Symbole der nationalen Identität.
Ermittlungen zuständiger Organe zeigen, dass die Besetzung der Regierungsgebäude detailliert geplant war. Über Instagram gab es für Gruppen der Putschisten aus den verschiedensten Landesteilen detaillierte Anweisungen. Der zuständige Sekretär für Sicherheit des Hauptstadtdistriktes, Anderson Torres, der sich Anfang Januar in Florida mit Bolsonaro getroffen hatte, ließ den Bolsonaristen die Türen öffnen. Den versammelten Bolsonaristen wurde zugesichert, dass „die Truppe helfen, kolaborieren und Schutz geben werde“, d.h. dass das Wachbataillon die Putschisten nicht behinderte.
In den Bundesstaaten Rondonia und Paraná wurden nach den Ereignissen in Brasília drei große Überlandleitungsmasten gesprengt, um ein Blackout zu provozieren, Chaos und Vorausetzungen für eine Militärintervention zu schaffen. Das waren keineswegs isolierte Aktionen. Der Bolsonarismus hat in Teilen der ultraliberalen Mittelklasse und unter religiösen Fundamentalisten seine soziale Basis. Zwanzig Prozent der Bevölkerung hegen Sympathien für die ultrakonservativen Kräfte. Ultrarechte Gruppen bestehen seit 2015/16. Sie sind volatil, formieren Gruppen und operieren über soziale Medien. Nach der für Bolsonaro verlorenen Wahl organisierten diese Camps vor Militärobjekten und blockierten Straßen. Direkte Beziehungen zu rechten Gruppierungen in den USA werden unterhalten. Steve Bannon, ehemaliger Berater Präsident Trumps, begrüßte die Aktionen der Bolsonaristen in Brasília. In der Auseinandersetzung um die Demokratie zeigt sich im Unterschied zum Bolsonarismus eine Schwäche der demokratischen Kräfte, besonders der Linken: Sie haben Schwierigkeiten, einig zu handeln.
Die neue Koalitionsregierung, Präsident Lula und die Minister für Justiz und des Obersten Gerichts handelten entschlossen. Die Bundesregierung übernahm die Geschäfte der Regierung des Hauptstadtdistrikts Brasília. Militärs, die für die Sicherheit der Regierungsgebäude zuständig waren, wurden entlassen. Auf Verfügung des Justizministers wurden regionale Chefs der Bundes- und Verkehrspolizei abgesetzt. Präsident Lula erklärte, dass er die Militärs auf den Platz verweisen wird, den sie laut Verfassung einnehmen müssen. Lula entband General Augusto Heleno, Chef des Sicherheitskabinetts Bolsonaros und Befürworter der Militärdiktatur, mit Wirkung vom 1. Januar 2023 seines Amtes. Beurlaubt wurde ebenfalls General César Arruda, Chef der Armee, der sich weigerte, einen Offizier wegen Korruptionsvorwürfen zu entlassen.
Im „Brief für das Brasilien von morgen“ wird das Programm der Lula-Regierung festgeschrieben: Stärkung des Binnenmarktes, Weiterführung des Sozialprogramms „Bolsa Familia“, Wiedereinsetzung des Nationalen Rates für Umwelt und des Amazonasfonds, Verbesserung des Gesundheits-und Bildungssystems, Widerruf der Bolsonaro-Gesetze (u.a. Besitz von Schusswaffen), Entwicklung der nationalen Industrie und Technologie, Durchsetzung einer nachhaltigen Landwirtschaft, Investitionen in Sport und Kultur, Überwindung der internationalen Isolierung Brasiliens und Stärkung des demokratischen Systems und der staatlichen Institutionen.
Mit außenpolitischen Maßnahmen wie der Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen zu Venezuela, dem Wiedereintritt in die CELAC (Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Länder) und der Teilnahme Lulas an der COP 27 in Ägypten wurden erste Maßnahmen zur Konsolidierung der internationalen Position Brasiliens eingeleitet.
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