26. Jahrgang | Nummer 3 | 30. Januar 2023

„Auf den Kanzler kommt es an“ – (?)

von Herbert Bertsch

„Geschichte sollte nicht mit Pendeln verglichen werden. Ich lehne die Vorstellung ab, daß das politische Leben jemals automatisch verläuft. Die Zukunft ist offen.“

 

Daniel Ziblatt, Professor für Regierungslehre, Direktor der Forschungsabteilung „Transformation der Demokratie“ am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) Berlin

 

In Vorbereitung einer Unterrichtung in der Redaktion Handelsblatt wird das zitiert und zudem erläutert: „Soll heißen: Es existiert keine Gesetzmäßigkeit, dass auf eine Ära der Liberalisierung nun eine der Unfreiheit folgt. […] Ebenso wenig gibt es einen automatischen Siegeszug der Demokratie. […] Werden wir uns an das Jahr 2023 als das Jahr erinnern, in dem Demokratie und Freiheit über Diktatur und Unfreiheit siegten? Möglich erscheint es – und zugleich das Gegenteil davon.“

„Wird die liberale Demokratie global überleben?“ ist die Hauptfragestellung für Ziblatts Forschungen. Offenbar entspricht das einem Bedarf an Beihilfe zur Analyse, verbunden mit Hoffnung auf etwas wissenschaftliche Voraussicht. Das bisherige Hauptwerk von Ziblatt in Kooperation mit seinem Kollegen Steven Lewitsky, auch Professor für Regierungslehre, aus 2018 heißt deutsch: „Wie Demokratien sterben“ und wird vom Hörensagen zumeist auch so zitiert; der vollständige Titel lautet weiter: „Und was wir dagegen tun können“.

Das entspricht vollständiger dem Anspruch, die Gründe zu analysieren, warum westliche Demokratien in existenzielle Krisen geraten, denen es zu widerstehen gilt. Ziblatts bildhafte Zustandsbeschreibung: „Wenn man die politische Entwicklung […] mit Naturmetaphern beschreiben will, würde ich […] sagen, dass die Demokratiekrise einem Erdbeben gleicht. Erdbeben kommen immer wieder vor. So war es in der Vergangenheit, so wird es auch in Zukunft bleiben. Die Frage ist: Wie macht man die Gebäude stabil genug, dass sie auch kommenden Erdbeben widerstehen. Das ist die Frage, die wir an unsere Demokratien richten müssen.“

„Unsere Demokratien“ haben Antworten dazu zeitlich verschoben, auch nach außen delegiert, durchaus auch mit Erfolgen bei dieser Art Krisenbewältigung: Man kann von der Auflösung jeweiliger Hauptprobleme dadurch freigestellt werden, dass man Hemmnisse bemüht, die tatsächlich oder passend gemacht zur Figur des Verursachers aller Übel taugen. Ein erfolgreicher Dauerbrenner für die Funktion als Feindbild war seit 1917 die Sowjetunion, mit jähem Ende. Gorbatschow hat „den Demokratien“ – auch eigensüchtig – den Feind weggenommen, mit allen, auch weltweiten Nebenwirkungen. Da war Phantomschmerz inbegriffen; aber auch die Chance, nun ernstlich das Miteinander zu versuchen, unter diesen veränderten Rahmenbedingungen.

Dafür gab es verschiedene Optionen, auch die einer neuen „neuen Ostpolitik“. Vielleicht wurde davon nicht zu viel investiert, wie derzeit gern verkündet; vielleicht war das zu wenig als Erprobung einer neu zu justierenden Mittellage in Europa, wie Deutschland sie objektiv hat. „Der lange Weg nach Westen“ war jedoch keineswegs die alternativlose Option. Und Abhängigkeiten gibt es immer wieder in jeder Himmelsrichtung, wenngleich unterschiedlich substanziell und auch unterschiedlich teuer.

In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion herrscht seit Jahrzehnten Kapitalismus, aus eigenem Antrieb und mit eigennütziger Beihilfe entstanden, alles im Turbo-Tempo; überall ist jetzt sozial-ökonomisch „Westen“ in Europa, mit Oligarchen, mit Luxusgeschäften, mit Korruption und Börse nach erfolgter privater Aneignung von „Volksvermögen“. Das Ergebnis wurde bis vor kurzem vom richtigen Westen ausnahmslos befeuert, zumal nicht wenig von der Substanz im Ausland landete. Dabei gilt auch hier, was von Jürgen Leibiger im Blättchen 20/2020 referiert wurde: „300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, daß das Kapital nicht riskiert …“ Dabei haben sich die Macher wohl in allen Nachfolgestaaten auch die Widersprüche angeeignet, die dem Kapitalismus jeglicher Entwicklungsstufe eigen sind – mal subtil, mal gewalttätig ausgetragen.

Jetzt sind die beiden bedeutendsten ehemaligen Sowjetrepubliken als eigenständige Staaten gegeneinander im Abnutzungskrieg, dessen Dividende an den internationalen Finanzmärkten ungeahnte Höchststände erreicht. Dem gegenüber entstehen kostenpflichtige Verluste; nicht nur auf dem Kriegsschauplatz. Auf einem der vordersten Verliererplätze hat sich Deutschland positioniert, von den Regierenden auch als „Bestrafung“ dafür angenommen, mit Rußland, „im Unterschied zu unseren Freunden“, kapitalistische Marktbeziehungen zum gegenseitigen Vorteil gehabt zu haben.

Mit Aussicht auf Eskalation haben wir jetzt dieses Staatsziel, das alles andere dominiert, auch den Klimawandel und den Demokratie-Abbruch: „Wir wollen, dass Russland in dem Maße geschwächt wird, daß es nicht mehr in der Lage sein wird, das zu tun, was es bei der Invasion der Ukraine getan hat.“ Dies ist verpflichtend für die NATO, aber mit besonderer Hin-Richtung auf Deutschland vom amerikanischen Verteidigungsminister Lloyd Austin verordnet.

In der Propaganda wird dieses Ziel verbunden mit der Vision, danach winke die Herrschaft der Menschenrechte störungsfrei. Das hat etwas mit Zukunft zu tun, die – wie wir oben gelernt haben – „offen“ ist. Belehrt von den sprunghaften Ereignissen spricht man in der Zeitgeschichte über Vergangenheit deshalb zurückhaltend von „historisch informierten Vermutungen“, die gerade noch gestatten, wiederkehrende Muster zu erkennen und deren Auswirkungen anzuzeigen. Umso erfrischender und hilfreicher kann da ein unverstellter Blick auf lange Wellen in der Geschichte sein. „Eine historische Perspektive auf die deutsche Außenpolitik der zurückliegenden 150 Jahre bietet dafür reicheres Anschauungsmaterial als eine auf die letzten Dekaden begrenzte Sicht.“ So lautet die Empfehlung einer jüngsten Publikation, die dieser Erkenntnis entspricht und Aufmerksamkeit verdient.

Bei campus erschien Mitte 2022 das Übersichtswerk von Mariano Barbato, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Passau: „Wetterwechsel“, mit dem Sachtitel „Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Scholz“, mit umfangreichem Apparat auf rund 300 Seiten versammelt. Mehr als nur ein Gag ist die Idee, den Persönlichkeiten Charakteristiken aus der Meteorologie oder umgangssprachlich daraus abgeleiteten Begriffen beizugeben:

„Bismarck optiert für das Wetter; Bülow verspricht den Platz an der Sonne; Bethmann Hollweg führt ins Stahlgewitter; Stresemann sieht den Silberstreif am Horizont; Brüning arbeitet im Orkan; Hitler will den Sturm; Adenauer ankert im Westen; Brandt verlängert das Tauwetter; Schmidt trotzt frostigen Zeiten; Kohl sichert den Sonnenplatz; Schröder wechselt den Windschatten; Merkel simuliert Windstille.“ Zu Scholz jedoch abgehoben: „Der proklamiert die Zeitenwende“; das dürfte an ihm auch haften bleiben.

Konzentriert auf die Regierungschefs – bekanntlich nur eine Frau unter „den Männern, die Geschichte machen“ – und der These: „Auf den Kanzler kommt es an“, informiert und beurteilt der Autor, wie die Entscheidenden anhand einer festgefügten Institution, der „Morgenlage“, mit dem Entscheidungsmaterial umgingen, welches ihr Verständnis von den Staatsinteressen im jeweiligen Umfeld war und wie sie ihrem persönlichen Konzept entsprachen: Was muß getan werden, damit es so wird, wie ich es als Ergebnis gern hätte? Und gab und gibt es dafür Leitlinien, eingebettet in die Forderung des Tages, für gute und auch Fehlentscheidungen?

„Deutschlands Außenpolitik sieht sich seit 1871 einem Zielkonflikt ausgesetzt: Soll sich das Land im ‚Windschatten der Weltpolitik‘ einrichten? Oder soll es ‚weltpolitische Verantwortung‘ übernehmen? Hatte noch das Kaiserreich einen ‚Platz an der Sonne‘ gesucht, so hegten die grauenvollen Erfahrungen zweier Weltkriege die deutschen Ambitionen ein und prägten eine Kultur der Zurückhaltung.“ So fragt der Autor und bietet sowohl Erfahrungen vom deutschen Regieren als auch eine Analyse aus heutiger Sicht; manche Kritiker sprechen von gelungen erzählter Geschichte. Fast auf den Tag gemünzt, bleibt die Prägung haften: „Auf den Kanzler kommt es an“ – besser jedoch ohne diesen Ausschließlichkeitsanspruch!

Mariano Barbato: Wetterwechsel. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Scholz, Campus Verlag, Frankfurt / New York 2022, 314 Seiten, 32,00 Euro.