26. Jahrgang | Nummer 1 | 2. Januar 2023

Weltenerkundungen in Schlettstadt

von Wolfgang Brauer

Die Lateinschulen – Vorläuferinnen unserer Gymnasien und vergleichbarer Einrichtungen – pflegten in der Zeit des Humanismus eine schöne Tradition. Ihre Absolventen vermachten ihre persönlichen Sammlungen häufig testamentarisch der Bibliothek ihrer Stadt. So kamen oftmals erstaunliche Sammlungen zustande, von denen leider die wenigsten überlebt haben. Heute wäre das ein undenkbarer Vorgang. Kaum eine Schule pflegt noch eine Bibliothek, die diesen Namen verdient. Als Oberschüler konnte ich noch erleben, wie zu Beginn der 1970er Jahre in der DDR die Bibliothek meiner „Lateinschule“ zerfleddert wurde. Einige wenige Exemplare habe ich Jahre später aus Altpapiersäcken am Straßenrand fischen können. Die heutige Bundesrepublik ist keinen Deut besser. Aus der einmal geplanten und im Aufbau befindlichen Bibliothek der Vorzeigeschule, an der ich in den 1990ern unterrichtete, wurde binnen weniger Jahre ein „Klubraum“ der Sozialpädagogen, in dem das Billard nach wie vor das entscheidende Utensil ist.

Im elsässischen Schlettstadt war das vor 500 Jahren anders. 1547 starb in Straßburg der Philologe und Historiker Beatus Rhenanus. Der äußerst umtriebige Rhenanus war ein fleißiger und akkurater Herausgeber. Wie alle Humanisten betrieb er einen europaweiten Briefverkehr – „Netzwerk“ würde man das heute nennen. Das hat allerdings einen leicht pejorativen Beigeschmack. Seinerzeit war es eher der Versuch, das humanistische Ideal der „Gelehrtenrepublik“, der „Res publica litteraria“, zu leben. Ein rein geistiges (quasi „virtuelles“) Staatswesen in Form des geistigen Austausches, das allen offenstand, die sich zu den Idealen des Wissenserwerbes und der Wissensverbreitung natürlich auf christlicher Basis, aber dieser gleichberechtigt auch auf Grundlage des römisch-griechischen Erbes, bekannten. Wer diesen Minimalkonsens lebte, gehörte dazu, auch wenn man politisch noch so weit auseinanderlag, wie Erasmus von Rotterdam und Ulrich von Hutten beispielsweise.

Rhenanus – von Jugend an ein leidenschaftlicher Büchersammler – vermachte seine Bibliothek wenige Tage vor seinem Tod seiner „Schulstadt“ Schlettstadt (heute: Sélestat). Das waren mehr als 600 Bände, schon damals ein Vermögen wert und ein geistiger Schatz sondergleichen. Teils enthalten die Bände bis zu 24 in sie eingebundene Titel. Seinerzeit kaufte man „ungebundene Exemplare“, also Konvolute, die zum Lesen auch noch aufgeschnitten werden mussten, und ließ sie nach Geschmack und Geldbeutel individuell einbinden. So kamen – unter anderem aus Kostengründen – mitunter etliche Schriften zwischen zwei Buchdeckel, die zusammen- oder eben auch nicht zusammengehörten. Auch das erklärt gelegentliche Entdeckungen in alten Bibliotheken … So tauchte im Jahre 2015 in der eigentlich für durchforscht geltenden Bibliothek des Beatus Rhenanus ein Korrekturexemplar des Lutherschen Traktates „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ für die 1521 erschienene Baseler Ausgabe auf. Bis heute ist die Arbeit am Text leicht nachvollziehbar: Luther tätigte seine Anmerkungen mit roter Tinte, Rhenanus arbeitete mit Schwarz. Gleich daneben liegt – nach gut 500 Jahren immer noch passend zur Situation Europas – Martin Luthers ökonomische Schrift „Von Kauffshandlung und Wucher“ (1525). Das Buch stammt ebenfalls aus der Bibliothek des Rhenanus, allerdings fehlt die Angabe des Druckers. Es ist ein Raubdruck.

Aber ehe jetzt die bibliophilen Pferde endgültig mit mir durchgehen wieder der Reihe nach … Die Bibliothek des Beatus Rhenanus überstand alle Kriege und Feuersbrünste. Das Bibliotheksgebäude zeugt von dieser wechselvollen Geschichte. STADTBIBLIOTHEK MUSEUM ist in großen Lettern auf Deutsch an der Jugendstilfassade zu lesen, darunter Französisch BIBLIOTHEQUE HUMANISTE. Und die präsentiert ihre Schätze – die mit der 1452 gegründeten Pfarrbibliothek vereinigte Büchersammlung des Beatus Rhenanus – seit 2018 in einem erheblich erweiterten und gründlich modernisierten Gebäude. Die jetzigen Bestände sind der Kern einer allen Interessenten offenstehenden Forschungsbibliothek, dazu gehört das faszinierende Büchermuseum. Die Mitarbeiter der Einrichtung betreiben ein bemerkenswertes museumspädagogisches Programm. Das Museum präsentiert staunenswerte Angebote für Kinder.

Natürlich stehen die Bücher des Rhenanus im Mittelpunkt. Sie werden biographisch aufbereitet präsentiert. Der Rundgang beginnt mit einem Schulheft des Knaben Beat Bild – so lautet der bürgerliche Name des großen Humanisten. Der didaktische Ansatz seines Lehrers Crato Hoffmann, den man an den aufgeschlagenen Seiten trefflich nachvollziehen kann, ist heute noch praktikabel. Wenn man als Lehrer nicht die Arbeit mit Stift und eigenhändigem Schreiben auf Papier als mittelalterliches Teufelszeug aus dem Schulzimmer verbannt hat …

Dazu gehörte ein solides Quellenstudium. Die Bibliothek belegt das unter anderem mit Texten des Sophokles und Studienmitschriften, die Rhenanus 1505 zu den Werken des Aristoteles an der Pariser Universität angefertigt hat. Auch der junge Beat Bild brauchte Nebeneinkünfte und begann als Korrektor für seinen Straßburger Freund, den Drucker Matthias Schürer, zu arbeiten. Dieser Weg führte ihn in die berühmte Baseler Offizin Johann Amerbachs, bei dessen Nachfolger Johann Froben er 1521 die Werke Tertullians herausbrachte. Froben druckte bereits 1516 die lateinische Bibelübersetzung des Erasmus von Rotterdam „Novum Testamentum omne“. Erasmus’ Anmerkungen tragen den Untertitel „Fehler und Wahrheiten in der Schrift“. Hier wird das Tor für das spätere Vorgehen Martin Luthers weit aufgestoßen. Anlässlich dieser Arbeiten und der großen Editionen der Schriften der Kirchenväter fanden Rhenanus und Erasmus nicht nur zu einer 17 Jahre andauernden engen Zusammenarbeit, sie wurden Freunde und pflegten einen intensiven Briefwechsel. Vor diesen Zeugnissen stehend kann man einfach nur den Atem anhalten. Wer vom „Hauch der Geschichte“, der einen gelegentlich anweht, daherparliert – in Schlettstadt ist der spürbar.

Erasmus, der Luthers reformatorische Bemühungen anfänglich mit einer gewissen Sympathie – und wohl auch unterstützend – verfolgte, ging später zum Wittenberger Reformator auf Abstand. Als Humanist vertrat er nachdrücklich die Meinung, der Mensch könne sehr wohl zwischen Gut und Böse wählen, Luther bestritt diesen „freien Willen“ vehement. Rhenanus hingegen unterstützte die reformatorische Bewegung in seiner Heimat. Allerdings war er angesichts der immer gewalttätiger werdenden Auseinandersetzungen zutiefst verstört: „Die Bürgermeister bitten Sie inständig, sich weiterhin vor gewissen revolutionären Lehren in Acht zu nehmen […]“, schreibt er 1523 im „Brief an die Eintracht“, der an die Bürger Schlettstadts gerichtet ist. Die hörten auf ihn und beruhigten sich – Schlettstadt ging dennoch auf die Seite der Reformation über.

Spannend ist der Bogen, den die „Bibliothéque humaniste“ über das Elsass hinaus schlägt. Rhenanus verfolgte aufmerksam die wissenschaftlichen und geographischen Entdeckungen seiner Zeit. Zur Bibliothek gehört auch die 1507 in Saint-Dié veröffentlichte „Einleitung in die Cosmographie …“ des Martin Waldseemüller. Der Band wurde berühmt durch die erstmalige Verwendung des Vornamens des Amerigo Vespucci zur Benennung der Neuen Welt. Die Seite ist im Museum aufgeschlagen. Die „Einleitung …“ ist eine Verlegenheitslösung. Geplant war eine Neuausgabe der „Cosmographie“ von Claudius Ptolemäus, ergänzt durch das neue Kartenmaterial. Man wurde damit aber erst 1513 fertig und musste die Käufer irgendwie bei der Stange halten. Der 1513er Prachtband ist natürlich im Bestand – und ein Beleg dafür, dass der Name des Kolumbus mitnichten vergessen war, wie die Legende gern behauptet. Auf der Amerikakarte – eingezeichnet sind die bis dato bekannte Küstenlinie und die Kette der Großen und Kleinen Antillen – findet sich der lateinische Eintrag, dass „dieses Land mit den davorliegenden Inseln von Columbus im Auftrage des Königs von Castilien gefunden wurde“. Rhenanus ergänzte mit seiner feinen Handschrift „Christophorum“.

Auch zum berühmtesen Kunstwerk des Elsass, Mathis Grünewalds „Isenheimer Altar“, gibt es eine Querbeziehung. Zur Sammlung gehört das Herbarium des Adam Lonitzer (1528-1586), der in ihm als erster das Mutterkorn, den Verursacher des Antoniusfeuers, beschrieb. Die Issenheimer Antoniter widmeten sich der Pflege der von dieser heimtückischen Krankheit Befallenen.
Nach dem Besuch dieser Bibliothek wird man leicht nachdenklich. Wie oft höre ich meine Freunde klagen, sie wüssten nicht wohin mit ihren Bücherschätzen. Es gibt auch eine Ungnade der späten Geburt.