25. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2022

Stippvisite in Colmar

von Corbinian Senkblei

Colmar, das Städtchen im Elsass mit bewegter Geschichte, ist allemal eine Reise wert. Und schon gar im späten, schon vorsommerlich warmen Mai, wenn die Anzahl der Touristen in der kleinen historischen Altstadt erst erahnen lässt, zu welchem Lindwurm samt drangvoller Enge in den Sträßchen und Gassen sie während der alljährlichen Urlaubssaison demnächst wieder anschwellen wird.

Der Name der Stadt soll auf das lateinische Wort Columbarium zurückgehen. Das bedeutet einerseits Taubenschlag, bezeichnet jedoch zugleich altrömische Grabkammern mit reihenweise übereinander „gestapelten“ Nischen zur Aufnahme von Urnen.

Die Anfänge der Stadt gehen vermutlich auf die Karolingerzeit zurück. Eine erste urkundliche Erwähnung datiert jedenfalls auf den 12. Juni 823. Es handelt sich um eine in Frankfurt am Main ausgefertigte Schenkungsurkunde Ludwigs des Frommen, mit der dieser dem damaligen Abt von Münster ein Waldstück in der Domäne Columbarium überließ. Die Gegend war Jahrhunderte zuvor lange durch die Römer beherrscht worden. Zeugnis davon legt unter anderem ein großes antikes Mosaik ab, das im 19. Jahrhundert in einer gallorömischen Villa in Bergheim entdeckt wurde, einem Ort unweit Colmars. Der Fund lieferte den Anstoß zur Gründung des Musée Unterlinden in Colmar – in einem aufgelassenen Kloster aus dem 13. Jahrhundert.

Kaiser Friedlich II. erhob Colmar 1226 zur Reichsstadt. Rudolf von Habsburg gewährte 1278 die volle Gerichtsbarkeit. 1354 trat Colmar dem Zehnstädtebund bei. Obwohl in verschiedenen Kriegen heftig umkämpft, blieb Colmar nahezu unversehrt. In der historischen Altstadt gibt es daher zahlreiche gut erhaltene Fachwerkbauten aus Mittelalter und Renaissance sowie Bürgerhäuser aus dem 15. und 16. Jahrhundert – wie etwa das Pfister- und das Adolph-Haus berühmter Colmarer Patrizierfamilien, aber auch sehenswerte öffentliche Gebäude wie Rathaus und ehemalige Polizeiwache. Größter Beliebtheit bei auswärtigen Besuchern erfreut sich vor allem das Viertel Petit Venise („Klein-Venedig“), das sein romantisches Flair den pittoresken Wasserarmen der Lauch verdankt, die sich hier durch die Stadt schlängelt.

Einer der berühmtesten Söhne Colmars bis auf den heutigen Tag ist Martin Schongauer, den es im 15. Jahrhundert als Student bis an die Universität in Leipzig verschlug, bevor er als Kupferstecher und Maler reüssierte. Die Qualität seiner Stiche wurde allenfalls noch vom nachgeborenen Albrecht Dürer übertroffen. Auch Schongauer wusste bereits, wie später der Nürnberger, den kurz zuvor in Europa zum zweiten Male erfundenen Buchdruck mit beweglichen Lettern – dessen eigentlicher Schöpfer bereits einige Jahrhunderte zuvor war der Chinese Bi Sheng – zur Verbreitung und Vermarktung seiner Werke zu nutzen. Wer allerdings Schongauers Hauptwerk, sein Gemälde „Madonna im Rosenhag“, in der Colmarer Dominikanerkirche besichtigen will, der muss seine Visite in der Stadt gezielt danach ausrichten: von November bis April ist das Gotteshaus nämlich gänzlich geschlossen und während des restlichen Jahres zumindest montags und mittwochs ebenfalls.

Auch das Musée Bartholdi, das die Stadt für Frédéric-Auguste Bartholdi, einen anderen namhaften Sohn Colmars, Jahrgang 1834, in dessen Geburtshaus eingerichtet hat, hält seine Pforten nur vom 1. März bis 31. Dezember offen, nie allerdings montags, dafür jedoch mit einer öffnungstäglichen Siesta zwischen 12:00 und 14:00 Uhr.

In Paris, wohin die früh verwitwete Mutter mit ihren beiden überlebenden von insgesamt vier Kindern 1836 verzogen war, entdeckte der heranwachsende Frédéric-Auguste seine Begabung zur Bildhauerei und schuf bereits als nur 21-Jähriger mit der Bronzegruppe „Die sieben Schwaben“ein Meisterwerk, das im Museum präsentiert wird. Da hatte er seinen künstlerischen Durchbruch freilich bereits hinter sich. Der war ihm bereits 1854 gelungen – mit einer lebensgroßen Bronzestatue des napoleonischen, ebenfalls aus Colmar stammenden Generals Rapp. Dieser, Sohn eines Türhüters, hatte es durch außerordentliche Tapferkeit und Kühnheit in zahlreichen Schlachten der Grande Armée, in denen er sich nicht zuletzt 22 Verletzungen einfing, auf der militärischen Karriereleiter ziemlich weit nach oben geschafft und war 1809 schließlich zum Grafen geadelt worden. Da stand sein militärisches Glanzstück allerdings noch bevor: Als Gouverneur von Danzig und schon längst von feindlichem Territorium umgeben kapitulierte er erst einen Monat nach der epochalen Niederlage der napoleonischen Streitkräfte in der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813. Bartholdis Rapp-Denkmal war zunächst auf der Avenue des Champs-Elysées in Paris ausgestellt und wurde, nachdem es auf der Weltausstellung 1855 gezeigt worden war, 1856 in Colmar – passenderweise auf dem Champ de Mars (Marsfeld) – enthüllt. Dort ist es seither – mit einer zeitweiligen Unterbrechung durch die Zerstörung seitens der deutschen Nazi-Besatzer in den 1940er Jahren – zu sehen.

Das Musée Bartholdi informiert umfänglich über das Leben seines Namensgebers, der die Bindung an seine Geburtsstadt immer gepflegt und zum Beispiel auch in persona an deren (erfolgloser) militärischer Verteidigung während des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 teilgenommen hat, sowie über dessen künstlerisches Schaffen. Dabei selbstredend zuvorderst über seine Hauptwerke – den zweiundzwanzig mal elf Meter messenden „Löwen von Belfort“, die „Fontaine des Terreaux“ in Lyon sowie das Reiterstandbild des Vercingetorix in Clermont-Ferrand. Und natürlich über die monumentalste aller bartholdischen Großschöpfungen – jene Miss Liberty mit einer Figurhöhe von über 46 Metern, die seit 1886 die Schiffe vor der Hafeneinfahrt von New York begrüßt und die ihrem Erschaffer weltweite Bekanntheit bescherte. Eines der beeindruckendsten Fotos im Musée Bartholdi zeigt den Probeaufbau der kompletten Freiheitsstatue mitten aus dem engen Häusermeer von Paris hoch herausragend. Dort befand sich die Fertigungsstätte, von der aus das Kunstwerk, wieder zerlegt in seine 300 einzelnen, getriebenen Kupferplatten zu seinem Bestimmungsort gebracht wurde.

Das eigentliche Kronjuwel von Colmar jedoch und der diesmalige Hauptgrund für unseren Abstecher in die Stadt erwartet seine Besucher im Musée Unterlinden – der überwältigende Wandelaltar des Malers Mathis Gothart Nithart, genannt Grünewald, und des Bildschnitzers Nikolaus von Hagenau, geschaffen in den Jahren von 1512 bis 1515 im Auftrag des Antoniterklosters in Issenheim (Isenheimer Altar), eines der bedeutendsten Meisterwerke deutscher Tafelmalerei. Allein die Grünewaldsche Farbintensität sowie seine naturalistischen Darstellungen des Leichnams Jesu am Kreuz auf der Mitteltafel des Altars und nach der Kreuzabnahme auf der Predella hatten uns bei früheren Besuchen immer wieder in ihren Bann geschlagen. Doch nun war das Kunstwerk in einem mehrjährigen Prozess umfassend gereinigt und restauriert worden, Gesamtkosten 1,2 Millionen Euro, und soll nun wieder so erlebt werden können, wie Grünewald und von Hagenau es vor einem halben Jahrtausend erschaffen haben.

Dabei hatte das Projekt zunächst heftigen Gegenwind hervorgerufen. „Man hat uns vorgeworfen, die Altartafeln zu beschädigen, weil wir zu viele Lackschichten abnehmen oder zu aggressive Lösungsmittel benutzen“, so seinerzeit Museums-Direktorin Pantxika De Paepe. Wegen solcher Vorwürfe und mangelnder Transparenz waren die bereits 2011 begonnenen Arbeiten zunächst wieder abgebrochen worden. Erst 2017 wurde neu gestartet. Seither sind kritische Stimmen angesichts des ebenso wissenschaftlich fundierten wie vorsichtigen Vorgehens der Restauratoren verstummt, und sie werden angesichts des atemberaubenden Endergebnisses wohl auch nicht wieder laut werden.