26. Jahrgang | Nummer 1 | 2. Januar 2023

Von der Worpswede-Idylle in Stalins Verbannung

von Ingeborg Ruthe

Heinrich Vogeler war um 1900 Deutschlands gefeierter Jugendstil-Maler. Vor 150 Jahren kam er in Bremen auf die Welt. Und endete in der Sowjetunion.

Ein Riss zog sich durch Leben und Werk Heinrich Vogelers. Dem Sohn einer wohlhabenden Bremer Kaufmannsfamilie, der am 12. Dezember 1872 zur Welt kam, schienen die Musen überaus hold zu sein. Zumindest solange er sein spätromantisches Naturell auslebte und das Zentralgestirn der legendären Worpsweder Künstlerkolonie auf dem Barkenhoff mitten im Teufelsmoor war.

In Deutschland nahm vor 1900 die Industrialisierung Tempo auf. Gegen die wachsenden Fabrikschlote malten und formten Künstler des harmoniesüchtigen Jugendstils zauberische Ornamente und Idyllen. Dem erfolgreichen Vogeler, der derart märchenhaft von einem „neuen Menschen“, und einer „neuen, alles gestaltenden Kunst“ träumte, rissen die Sammler seine das irdische Dasein inmitten einer idealisierten Natur feiernden Bilder förmlich aus den Händen. Um sein Refugium Barkenhoff, von dem er 1897 in einem Brief an den befreundeten Schriftsteller Gerhart Hauptmann schrieb: „Meine Hütte ist mein Alles“, blühten Hortensien und Rosen. Seine Tomatenbeete trugen reiche Früchte. Und die Künstlerfreunde waren Gleichgesinnte, die das einfache Leben suchten und nach der Natur malten und formten.

Heinrich Vogeler hatte das alte Bauernhaus mit einem Biedermeier-Giebel und elegant geschwungener Freitreppe umbauen lassen und bis ins kleinste Detail in den modischen Jugendstil verwandelt. Seine Idee war es, das Leben mit Mitteln der Kunst zu verschönen. Also malte er Märchen. Sein Barkenhoff war eins: Ein Gesamtkunstwerk mit Ateliers und Remisen, selbstentworfenen Tapeten, Möbeln, Geschirr, symmetrischen Beeten und farblich abgestimmter Kleidung für die Bewohner, seine Künstlerfreunde, das Paar Modersohn-Becker, Mackensen, Overbeck, Hans am Ende, Rilke, Westhoff und andere.

Das Motiv „Sommerabend“ von 1905 sagt alles: Die wohlhabende Gemeinschaft versammelt sich auf der Barkenhoff-Terrasse: Vogelers Gattin Martha steht auf der Treppe zwischen antikisierenden Vasen und Zierbäumen. Die Herren musizieren, die Damen lauschen dem Konzert. Selbst dem Dichter Rilke war das zu behaglich, denn er notierte ironisch: „Es wird immer kleiner um Vogeler, sein Haus zieht sich um ihn zusammen, füllt sich mit Alltag aus, mit Zufriedenheit, Conventionen und Trägheiten, so dass nichts Unerwartetes mehr geschieht.“

Die wohlige Spießigkeit dieses Lebens hat auch Vogler selbst beunruhigt. „Das Bild ist wie ein schmerzhafter Abschied und wie ein Rückblick auf Verlorenes“, schrieb er später. Diese aufwendig inszenierte Welt hielt sich nicht. Die Ehen, seine eigene, die der Modernsohns, auch die Beziehung von Rilke und der Bildhauerin Clara Westhoff waren bald zerrüttet. Paula Modersohn-Becker, die engste Vertraute, starb 1907 im Kindbett.

Der perfekte Worpsweder Jugendstil-Traum platzte endgültig, als Vogeler körperlich unversehrt, aber desillusioniert und als Pazifist aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrte. Da brach er mit seinen idealen Allegorien des Frühlings und des Sommers zwischen Birken und Blumen, den malerisch festgehaltenen Künstlerfesten auf dem Barkenhoff. Sein neues Ideal war eine Gesellschaft mit „Neuen Menschen“. Diese Utopie basierte auf den urchristlichen Werten der Nächstenliebe. Vogeler schrieb zu Kriegsende 1918 einen „Friedensappell“ an den Kaiser, formuliert als „Märchen vom lieben Gott“. Dafür steckte die Bremer Polizei ihn 63 Tage lang ins Irrenhaus.

1919, ermutigt von der Verfassung der Weimarer Republik, erklärte Vogeler seinen Barkenhoff zur Kommune und Arbeitsschule. Die Aufhebung des Kapitalismus würde, so glaubte er, auch die Befreiung der Kunst zur Folge haben. In Worpswede sollte nun eine gewaltfreie „kommunistische Insel in einem kapitalistischen Staat“ entstehen, Selbstversorgung durch intensiven Gartenbau erreicht werden. Eine Sowjetunionreise 1923 brachte den endgültigen Bruch mit der Worpsweder Idylle. Er hatte sich auf dem Trip in Sonja Marchlewska, Tochter des Lenin-Vertrauten Julian Marchlewski verliebt. Kaum war die Scheidung von Martha Vogeler, die Trennung von den Töchtern durch, heiratete er die Aktivistin, lebte zunächst mit ihr und dem gemeinsamen Sohn Jan in Berlin, später in Moskau. Den Barkenhoff bekam die „Rote Hilfe“.

Eins von Vogelers sozialutopischen Komplexbildern: „Karelia und Murmansk“, ein Traum vom Kommunismus aus dem Jahr 1926.IMAGO/Heritage Images

Auf pathosgeladenen politischen Bildern träumte er abermals von der „Geburt des neuen Menschen“, obwohl man ihn in Berlin 1929 aus der KPD geworfen hatte, da er die Partei-Dogmatik kritisierte. Dennoch glaubte er unbeirrt, mit den „Komplexbildern einer klassenlosen Gesellschaft“ ein formales Prinzip gefunden zu haben, das sich aus den neuen sozialen Strukturen und Prozessen der Sowjetgesellschaft ergebe, das ein Zusammenwirken der „Triebkräfte“ aufzeige: Bildung der Massen, Ästhetik.

Er malte und collagierte expressive, kubo-futuristische Simultan-Kompositionen. Die Bildflächen sind in prismatische Einzelfelder aufgesprengt. Darin ist – sich teils überschneidend – der Sowjet-Alltag dargestellt, mit Agitprop-Schrift und in kühner Perspektive. Das Kollektive war Vogelers Anliegen, schon auf dem Barkenhoff. Einige dieser Komplexbilder gehören der Neuen Nationalgalerie Berlin, sind in der Schau „Kunst der Gesellschaft“ zu sehen: Der rote Stern, Studentengruppen, russische Bäuerlein, alle lernend, beratend, tüftelnd. Und gemeinsam mit Hacken und Schaufeln am Werk. Auch nacktbadend am See. Ein szenischer Traum vom Aufbau der „neuen Gesellschaft“.

Aber Stalin missfiel diese Kunst, er ordnete sie als „formalistisch“ ein, was so viel bedeutet wie westlich dekadent. Vogeler besaß keinen Sowjet-Pass. Als Hitler 1941 auch die Sowjetunion überfiel, wurde er, wie so viele andere Deutsche, nach Kasachstan deportiert. Die Marchlewska ließ sich scheiden. Ohne Rente, arm, krank, elend starb der Maler 1942 in der Verbannung, im Hospital des Staudamm-Arbeitslagers Kornejewka. Niemand weiß, wo man ihn verscharrte. 1986 stiftete die Stadtverwaltung Karaganda ein Ehrengrab. Bis heute die leere Grube eines Sozialutopisten.

 

Berliner Zeitung, 12.12.2022.; Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.