Vor wenigen Tagen ließ Berlin den 300. Geburtstag von Anna Louisa Karsch sang- und klanglos an sich vorbeirauschen. Ich hatte in Heft 24/2022 des Blättchens immerhin auf zwei Neuerscheinungen des Verlages für Berlin-Brandenburg aufmerksam machen können, in denen diese ungewöhnliche und aus vielen Gründen bemerkenswerte Dichterin eine Würdigung voller Herzenswärme erfährt.
Eine Dichterin, darin liegt das Problem. Die Enkeltochter Helmina von Chézy – die selbst den Kelch der Bitternis einer freien Schriftstellerinnenexistenz in einer Männergesellschaft bis zur Neige leeren musste – machte 1858 in ihrer Autobiografie „Unvergessenes“ in geradezu vornehmer Zurückhaltung darauf aufmerksam: „Die Lebensgeschichte meiner Großmutter Karschin ist in verschiedenen Sprachen häufig erschienen, mitunter von sehr geistvollen Männern geschrieben worden.“ Der Chézy war der feine Unterschied zwischen „schreiben“ und „aufschreiben“ sehr wohl bewusst. Man muss sich ihren Satz auf der Zunge zergehen lassen …
Von der Großmutter, der Jubilarin, unserer „Karschin“, sind nur wenige explizit autobiographische Texte überliefert – alle wurden im Zusammenhang mit ihrem Entrée in die Berliner literarische Gesellschaft geschrieben. Da sind vier lange Briefe an Johann Georg Sulzer, der 1764 zusammen mit Johann Wilhelm Ludwig Gleim ihre „Auserlesenen Gedichte“ herausgab. Übrigens die einzige größere Ausgabe ihrer Texte – nicht unbedingt ihrer besten –, die zu ihren Lebzeiten erschien. Und da ist die gereimte, durchaus bittere, Autobiografie der immerhin fast 39jährigen Dichterin, die sich damit bekanntzumachen versucht: „Belloisens Lebenslauf“: „Wuchs untter Lämmern, untter Tauben / Und Ziegen bis inns Sechstte Jahr / Und lerntte schon als Kind ann / Einen schöpfer glauben / Weils Morgenroth so lieblich war“.
Diese Verse bilden den Auftakt zu einem biografischen Rundgang durch das Leben der Poetin, den das Halberstädter Gleimhaus derzeit unter dem Titel „Plötzlich Poetin!?“ ermöglicht. Das Projekt ist aus guten Gründen in Halberstadt angesiedelt. Das Gleimhaus verfügt über einen umfangreichen Bestand der Schriften und Briefe der Dichterin – fast 2000 Originale! –, und die Karschin war 30 Jahre lang mit Gleim eng befreundet. Mehr noch, sie hat ihn wohl geliebt. Aber ihre Versuche, dauerhaft im Hause des Hagestolzes Wurzeln zu schlagen, scheiterten allesamt. Das mag ein Grund sein, weshalb Gleim die schönsten Liebeslieder seiner „Sappho“ niemals zur Veröffentlichung brachte: „Sing ich Lieder für der Liebe Kenner: / Dann denk ich an den zärtlichsten der Männer, / Den ich immer wünschte, nie erhielt; […]“
Geistvolle Männer schrieben die Geschichte ihres Lebens, sagt die Enkelin. Schreiben heißt auch Weglassen.
Die mit spürbarer Zuneigung der Kuratorinnen präsentierte Sonderausstellung kommt nicht als eine solche daher: Ihre Stationen sind behutsam in die Dauerausstellung des Hauses eingefügt. Das ist ein wohltuender Kunstgriff, der nicht immer gelingt, hier ja. Selbst der berühmte „Freundschaftstempel“ des Halberstädter Anakreontikers und Literaturmäzens wird derzeit von Anna Louisa Karsch dominiert – anwesend ist sie dort dank des exzellenten Porträts von Karl Christian Kehrer (1791) ansonsten immer. Und durch das Werden der Dichterin – der Ausstellungstitel ist polemisch zu verstehen – geleitet uns „Belloisens Lebenslauf“. Das ist ein erstaunliches Gedicht.
In den oben zitierten Versen ist neben der poetisch ummäntelten misslichen Lebenssituation des Kindes eine fast schon romantische Haltung zu spüren: die erinnerte kindliche Missionierung aufgrund eines starken Natureindrucks. Die Dichterkollegen – selbst Goethe unterläuft das – benutzen ihre Naturerlebnisse oftmals nur zur Illustrierung ihrer innerlichen Befindlichkeiten. Sie spielen mit ihren Gefühlen. Gerade die befreundeten Anakreontiker. Bei Anna Louisa Karsch bewirken diese gleichsam mit Zwang Veränderungen der eigenen Subjektivität. Nicht der Verstand bewältigt das Erlebte. Das Erlebte bezwingt den Verstand. Das ist von überwältigender Modernität, das sollte erstmals Jahrzehnte später bei Novalis und seinen Dichterfreunden en vogue werden. Die Autorin hatte nur das Pech, sowohl als Frau in der Männerwelt des 18. Jahrhunderts – Empfindsamkeit hin, Empfindsamkeit her – als auch als Poetin minderer Bildung nicht so recht ernst genommen zu werden.
Natürlich gibt es eine Station, die sich notwendigerweise mit dem Krieg auseinandersetzt. Anna Louisa Karsch ist Schlesierin. Heute würde man verharmlosend sagen, sie war „Zeitzeugin“. Sie hat Schlimmes erlebt: „Du Gott des Krieges, laß die Erde! / Dein Schritt, mit Blut bemerkt, ist / fürchterlich, ist schwer […]“ („Ein Gebet an den Mars“, 1762). Dennoch schreibt sie Lobeshymnen mit Versen, die Moses Mendelssohn erschauern lassen, auf König Friedrich und seine Siege. „[…] mit dem Glüke des Krieges zugleich wandte sich das Glük meiner Muse“, zitiert die Ausstellung den Lebensbericht an Sulzer vom 8. September 1762. Sie findet dank ihrer patriotischen Gedichte Anschluss an den preußischen Adel, der ihr in Gestalt des Barons von Kottwitz den Umzug nach Berlin ermöglicht. „Er glaube“, schreibt sie im zitierten Sulzer-Brief, „daß hier mein Genie unter Sorgen der Nahrung ersticke und daß es in der großen berlinischen Welt mehr hervordringen werde.“ Kottwitz hatte sich nicht geirrt.
Aber da ist immer noch Gleim, da sind die Versuche, sich in Magdeburg – in dessen Festung wich die Königin aus, Berlin war zu unsicher – oder gar in Halberstadt dauerhaft niederzulassen. Ich weiß nicht, wann sie begriffen hat, dass Gleim sie nur hinhielt. Ob sie es überhaupt begriffen hat?
Jedenfalls hatte sie Grund genug zu einer hoch modischen Gefühlsentäußerung des späten 18. Jahrhunderts, dem Weinen: „Die Trähne redet viel / der laß dir alles sagen“. Die Ausstellung stellt sich diesem Thema mit einer gewissen sachlichen Distanz. Wir leben im 21. Jahrhundert. Wir morden zwar nicht weniger als unsere Vorfahren im 18. – aber unsere Tränen setzen wir zurückhaltender ein. 1761 muss die Poetin nach einem längeren Aufenthalt Gleims Haus wieder verlassen. Sie schreibt das Gedicht „Abschied“: „Du Hauß, du Eine Wellt Für mich“ – Ich habe sieben dicke Tränen der Dichterin auf dem Manuskriptbogen gezählt. Zwei nimmt sie in ihr Gedicht auf. Mit den anderen siegelt sie förmlich. Das geht einem noch nach über 260 Jahren nahe …
Dichterausstellungen sind oft publikumsfeindlich. Gerne üben ihre Macher eine Bildungstyrannis über das besuchende Volk aus, die mit Bergen von beschriebenem und bedrucktem Papier daherkommt. Wer mag, kann auch in der Ausstellung über die Karschin viel lesen. Man muss es aber nicht unbedingt. Das Team um Museumsleiterin Ute Pott lässt uns in die Werkstatt der Poetin blicken. Da ist nicht nur die Sache mit den Tränen. Plötzlich stehen wir vor einer Stofffahne mit einer aufgedruckten Gedichthandschrift. Nein, es sind zwei Handschriften. Eine akkurate Kanzlistenhandschrift, die am rechten Rand untereinander 21 Begriffe auflistet. Links daneben in wilder Handschrift Verse mit diversen hingeschmierten Korrekturen. Es handelt sich um von Gleim aufgeschriebene Endreime, die von der Karschin mit Versen „ergänzt“ wurden. Man ergötzte sich in Gesellschaft an den Stegreifkünsten der Dichterin. „Die deßperate Sapho“ heißt dieses Produkt. Man kann solch Spiel toll finden. Mir erscheint das eher wie die Vorführung eines gelehrten Affen.
Anna Louisa Karsch wusste, dass sie ungebeten in eine Domäne einbricht, die ihr vom seinerzeitigen Rollenverständnis her überhaupt nicht zustand. „[…] ich glaube Daß mann nie Ein Weib vergißt Welches aus dem Landvolkstaube zumm Parnaß geflogen ist“, zitiert die Ausstellung einen Brief an Caroline von Berg aus dem Jahre 1785. Das ist das Eine. Sie war aber auch von der Kraft ihrer Dichtung überzeugt. „einst sterb ich / doch mein Lied geht / nicht zum Grabe mitt“, endet ihr 1761 geschriebenes Gedicht „Das Harz-Moos“.
Ich meine, sie hat recht behalten. Dieser Gang durch die Welt der Anna Louise Karsch macht Lust auf mehr von ihren Gedichten. Was kann man von einer Literatur-Ausstellung mehr verlangen?
Plötzlich Poetin!? Anna Louisa Karsch. Leben und Werk, Gleimhaus Halberstadt. Museum der deutschen Aufklärung, Domplatz 31, 38820 Halberstadt; bis 30. April 2023.
Schlagwörter: Anna Louisa Karsch, Gleimhaus Halberstadt, Wolfgang Brauer