25. Jahrgang | Nummer 26 | 19. Dezember 2022

Kinderbücher auch für Erwachsene

von Thomas Behlert

Manchmal verfolgt mich die Frage, ob man im Alter noch Kinderbücher lesen kann? Ok, ab und zu liest man den kleinen Geistern vor, damit nicht alles verkümmert und sie die heiß geliebten Handys aus der Hand nehmen. Schöner wird es, wenn man ein Buch aus der Kindheit wiederfindet, es immer noch toll findet und jetzt erinnernd zum wiederholten Mal durchstöbert. Da wäre zum Beispiel ein Kinderbuch von Max Zimmering, das es immerhin schon seit 1933 gibt und eine bewegende und aufregende Geschichte hinter sich hat. Als das 1932 geschriebene Buch erscheinen sollte, kamen die Faschisten an die Macht. So musste der kommunistische Autor in die Tschechoslowakei fliehen und mit ihm das Manuskript, das später ein mutiger Genosse über die Grenze schmuggelte. In Prag wurde es in die Landessprache übersetzt und für die tschechischen Kinder heraus gebracht.

Doch nicht lange und es folgte der Überfall auf das Exilland. Max Zimmering musste wieder fliehen, bis nach England. Geblieben war ihm nur ein Buch in tschechischer Sprache, das er nach dem Krieg zurück übersetzen ließ und es dann neu bearbeitete. In der DDR erschien es schließlich in vielen Auflagen im Kinderbuch Verlag und kommt nun zu neuen Ehren. „Die Jagd nach dem Stiefel“ ist eine der ersten Kriminalgeschichten für Kinder.

Im Berlin der 1930er Jahre entdeckt Paul, der nach der Schule Zeitungen austrägt, auf dem Hof einen Toten, den er sogar kennt: Es ist Schiemann von der Antifa. Gemeinsam mit Freunden verfolgt Paul eine „heiße Spur“, die er neben dem Toten fand: Den Stiefelabdruck auf einer Zeitungsseite. Es muss die Sohle des Mörders sein! Und wird die Polizei überhaupt den Mord an einem Antifaschisten aufklären wollen? Bis heute kann das Buch von jedermann gelesen werden, da es spannend ist, die damaligen Lebensumstände der Arbeiter genau beschreibt und die Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt. Zimmering, der 1973 in Dresden starb, war mit Leib und Seele Kommunist, Erster Sekretär des Deutschen Schriftstellerverbandes (1956–1958) und Direktor des Instituts für Literatur „Johannes R. Becher“ in Leipzig. Viele Ostdeutsche kennen Zimmerings Bücher, wie „Rebellion in der Oberprima“, „Li und die roten Bergsteiger“, aber auch „Phosphor und Flieder“ (1953), das sich mit dem Untergang und Wiederaufstieg der Stadt Dresden auseinander setzt.

Max Zimmering: Die Jagd nach dem Stiefel, Eulenspiegel & Kinderbuchverlag Berlin, 2022, 136 Seiten, 10,00 Euro.

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Mit dem Detektiv Sherlock Holmes hat sich der Schriftsteller Arthur Conan Doyle ein Denkmal gesetzt. Die Kriminalgeschichten gibt es in allen möglichen Sprachen der Welt, wurden immer wieder aufgelegt und sogar neue dazu geschrieben. Spannend und aufregend geht es zu, wenn Sherlock Holmes und sein Partner Dr. Watson Bösewichte aufspüren. Dabei ist viel Finesse, Kombinationsgabe und Einsatz neuer Erkenntnisse gefragt. Mittlerweile existieren jede Menge Filme und Serien, die den Zuschauer mit Spannung überhäufen und oftmals zum Film-Junkie werden lassen. Doch wie will man diese Geschichten den jungen Lesern näherbringen? Alles in Bildern zu erzählen ist dabei eine tolle Idee. Der Züricher Illustrator Hannes Binder hat das umgesetzt und mit epischen Bildern den spektakulärsten Fall des genialen Detektivs aufs Papier gebracht. Holmes und Watson müssen erneut ihren Erzfeind jagen. Diesmal führt die Spur bis an den tosenden Reichenbachfall in der Schweiz, wo es auch zur alles entscheidenden Zusammenkunft kommt und Holmes bis an seine Grenzen geht. Ein kleiner Text und viele wunderbare Zeichnungen, die alles sehr genau darstellen, machen das Buch „Das letzte Problem“ zu einem phänomenalen Jugendbuch, das auch Erwachsene zum Umblättern animiert.

Hannes Binder: Sherlock Holmes – Das letzte Problem, NordSüd Verlag Zürich, 56 Seiten, 16,00 Euro.

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Schließlich sei noch auf die wunderbaren Menschen Sempé und Goscinny hingewiesen, die mit dem kleinen Nick riesige Erfolge feierten. Doch bevor Jean-Jacques Sempè (verstorben am 11.08.2022) diesen Erfolg feiern konnte, musste er als Kind viel Leid ertragen, denn er wuchs, unehelich geboren, zunächst bei gewalttätigen Pflegeltern auf, wurde von seiner Mutter zurückgeholt, nur um nun die Gewaltausbrüche des Stiefvaters zu erleben. Darauf angesprochen, sagte er einmal in einem Interview, dass er mit dem kleinen Nick das Elend, was er in der Jugend erlebt hatte, wieder aufleben ließ. Am Ende der Geschichte sollte aber immer alles gut ausgehen. Gemeinsam mit dem Asterix-Autor Goscinny schuf Sempé von 1959 bis 1964 die Erlebnisse des kleinen Nick. Es sind meist subversive Geschichten aus der Sicht eines Jungen, der in der Schule nicht der Beste ist, viele Freunde hat und bei dem die Streitereien oft in handfesten Prügeleien enden. Bloß wenn Fußball gespielt wird und sich die Väter einmischen, hauen diese sich am Ende auf die Nasen und die Freunde essen derweil vergnügt spendiertes Eis.

Goscinny wiederum, der viel zu früh am 5.11.1977 verstarb, ging mit seinen Eltern 1928 nach Argentinien, besuchte dort eine französische Schule und landete 1945 in New York, um schließlich Anfang der 1950er Jahre zurück in die Heimat Frankreich zu gehen. Hier erfand er mit Albert Uderzo Asterix, mit Morris den Cowboy Lucky Luke und endlich auch den kleinen Nick mit Sempé. Nun endlich darf der Held selbst aus seinem Leben erzählen, die genaueren Umstände von Abenteuern erläutern und auch die tapferen Eltern vorstellen. Nick berichtet außerdem, wie René und Jean Freunde wurden, was sie alles zusammen erlebten, wie ihnen die Ideen zuflogen, was es mit der Lehrerin auf sich hat und warum die Oma in Argentinien lebte. Natürlich wird der Krieg nicht ausgelassen, der René Goscinnys Familie zur Flucht zwang. Sogar Schule schwänzen findet statt. Die nun vorliegenden humorvollen Geschichten schrieb mit viel Herz René Goscinnys Tochter Anne, die die Geschichte der Freundschaft hautnah erlebte und nun den kleinen und großen Lesern eine Freude machen will. Aber Achtung! Wie der Übersetzer Hans Georg Lenzen mitteilte, sind Satzbau und Zeichensetzung dem kleinen Nick angepasst, nicht dem „Kleinen Duden“.

Anne Goscinny: Der kleine Nick und das große Glück, Diognes Verlag Zürich, 144 Seiten, 18,00 Euro.