Machtpolitische Allianzen inszenierten sich in der europäischen Geschichte in der Regel als ideologisch oder geistlich anspruchsvolle Wertegemeinschaften. Da bildet die Europäische Union als Gralshüterin globaler Freiheit und Menschenrechte keine Ausnahme. Auf das entscheidende Wort der kapitalistischen Marktwirtschaft wird da allzu gerne verzichtet.
Erinnern wir uns bitte einmal politisch ganz korrekt daran, dass es ab 1815, nach drei Jahrzehnten schrecklicher Kriege, eine „Heilige Allianz“ gab. Sie sollte den Kontinent nur noch durch höchst christliche Ideale vereinen. Die frommen Initiatoren verfolgten allerdings rein irdische Ziele. Die Frage, ob die christlichen Dogmen katholisch, protestantisch oder griechisch-orthodox verstanden werden sollten, verhieß wenig Transparenz für den Diskurs um Europas politisch-konservative Kräftebalance, die mehr und mehr durch bürgerlich-liberale und nationale Bestrebungen erschüttert wurde.
Wenn man sich heute im Europa der freiheitlichen Demokratie umsieht, scheint die nach Frieden dürstende „Heilige Allianz“ auf den ersten Blick eine phantastische Fiktion verschwörerischer Angstneurotiker gewesen zu sein. Doch gemach! Das Gründungsdokument erlaubt eine dem Zeitgeist verwachsene Orientierung: „Im Namen der heiligen und unteilbaren Dreieinigkeit! Ihre Majestäten, der Kaiser von Österreich, der König von Preußen und der Zar von Russland haben infolge der großen Ereignisse, die Europa in den letzten drei Jahren erfüllt haben, und besonders der Wohltaten, die die göttliche Vorsehung über die Staaten ausgegossen hat, deren Regierungen ihr Vertrauen und ihre Hoffnungen auf sie allein gesetzt haben, die innere Überzeugung gewonnen, dass es notwendig ist, ihre gegenseitigen Beziehungen auf die erhabenen Wahrheiten zu begründen, die die unvergängliche Religion des göttlichen Erlösers lehrt.“
Dem heutigen Leser kommt sofort in den Sinn: Solche idealen Konstrukte sind doch aus den Köpfen zahlreicher christlicher Politiker und der sie sekundierenden Politologen nicht verschwunden, wenn sie vor das Wahlvolk treten! Die Neue Zürcher Zeitung formulierte 2016 sehr weise: „Das akademische Fach der Politologie kann nicht nur die Wissenschaft von der Demokratie sein, denn dies liefe auf eine keineswegs zu rechtfertigende Verengung hinaus.“ Da ist es von der „Heiligen Allianz“ zur modernen Menschenrechtsideologie nicht weit. Korrekte Politologen genießen offenbar per se das blinde Vertrauen zahlreicher Medien. Sie finden stets das rechte Expertenwort, selbst zur säkularen Beurteilung kriegerischer Lagen. Auch der Religionsbedarf in der praktischen Demokratie der kleinen Leute ist da kein Tabuthema. Hartmut Rosa, ein in Jena lehrender und forschender Politologe und Soziologe, wortgewaltig und hochgeehrt (er durfte sogar schon den weiland die wahre Freiheit postulierenden Bundespräsidenten Gauck nach Frankreich begleiten!), hat den Traktat „Demokratie braucht Religion“ auf den Markt geworfen. Wenn das kein Bestseller wird! Bei der Suche, mittels der Religion einem quälenden „rasenden Stillstand“ der Zeit in unserer Gesellschaft zu entfliehen, hat er sich zur Freude seiner amüsierten Leser sogar des Zuspruchs von Gregor Gysi versichert. Ein genialer Schachzug, denn angesichts der durch massiven Missbrauch und Reformresistenz verursachten Massenflucht aus den Kirchen ist es nicht ganz leicht, Politik und Religion zwecks Krisenbewältigung miteinander zu verknüpfen. Doch selbst Bild-Leser verstehen sofort, dass da brillant eine geistige Marktlücke geschlossen wird.
Da gleichen auch die für die Gegenwart skizierten Bilder denen des Jahres 1815 und der „Heiligen Allianz“. Der treuherzige Ratschlag, Entschleunigung, Transparenz oder das geneigte Ohr eines Zuhörers genügten als bunter Lack, den zum Kaufrausch erzogenen Bürger von den Grundkonflikten der Zeit abzulenken, ist etwas weltfremd. Das betrifft übrigens auch jene Adepten medialer Sphären in Thüringen, die im schrecklichen Ukraine-Krieg mit Interviews zum Thema „Wie fühlt sich Krieg an“ glauben, durch Erzählungen über das Tagesgeschehen davon ablenken zu können, dass die Welt immer noch unter dem Krieg der Reichen gegen die Armen erbebt. Es kommt doch vielmehr darauf an, diesen Krieg sofort zu beenden, Europas Frieden wiederherzustellen und die Fortexistenz der Menschheit zu organisieren, indem Ursachen und Folgen des Krieges klar formuliert werden. Aber bitte: Es ist auch nur eine moderne Podcast-Variante so vieler historischer Irrtümer, wie sie mit der Konzeption der „Heiligen Allianz“ überkommen sind.
1814/15 unternahm Zar Alexander I. diesen Versuch der die eigene Macht sichernden Verharmlosung, indem er das Konzept für die „Heilige Allianz“ auf rein christlicher Basis in schönster Harmonie mit der apostelgleichen baltischen Bußpredigerin und Phantastin Juliane von Krüdener erdachte: Russland hatte Napoleon den Schneid abgekauft und der Zar überlegte, ob seine Soldaten die russischen Grenzen nach Europa überschreiten und den Feind bis nach Paris treiben sollten. Europas Fürsten jubelten: Alexander, du bist der rettende Engel – flieg über die Lande und befreie uns vom korsischen Usurpator! Alexander glaubte mit Frau Krüdeners sanfter Hilfe ein wenig an die politische Lauterkeit der Alliierten und hielt die Gelegenheit für günstig, sich als Dank für die Befreiungsmission Polen unterwerfen zu können. Sofort geriet er an die roten Linien der Monarchen Europas! Als er auf dem Wiener Kongress obendrein noch das Papier für den christlichen Völkerbund aus der Tasche zog, wütete der einflussreiche Fürst de Ligne nicht nur: „Der Kongress tanzt, aber er bewegt sich nicht.“ Die Kritik am Zaren fiel sehr viel harscher aus. Ligne bezeichnete ihn als einen Affen und Unteroffizier des preußischen Königs und fürchtete, dass Alexander vorzeitig aus Wien abreisen und den Kongress mit der christlichen Utopie in größter Verwirrung zurücklassen könnte. Ligne wusste als Apologet eines französisch-österreichischen Bündnisses sehr wohl, dass er sich nicht auf einem Friedenskongress befand, sondern dass dort mit List und Tücke bereits kommende Kriege gegen Preußen und Russland vorbereitet wurden. Das Geheimrezept der Diplomaten seiner Couleur: Man muss diese beiden Monarchen durch lange Kriegsvorbereitungen ermüden. „Einstweilen warten wir die Anerkennung des Kaisers von Österreich als Deutscher Kaiser ab. Um diese gänzlich zu sichern, muss man zwischen einer Gemeinheit und einer Infamie die Wahl treffen.“ Er meinte damit, Russland und Österreichs Kaiser sollten sich selbst durch Vertragsbrüche desavouieren: „Der Gipfel der Schmach wird aber erreicht, wenn man beide weiter regieren lässt.“ Und so kam es, dass das ursprüngliche zarische Glaubensbekenntnis, mit dem Votum der Christenheit zu den Herrschern Europas zu zählen, bei den monarchischen Kollegen auf Kopfschütteln und Ablehnung stieß, in den Händen der ränkeschmiedenden Diplomaten und Politiker vom Schlage eines Metternich jedoch in ein zwielichtiges politisches Instrument verwandelt wurde, in eine raffiniert formulierte Handlungsanweisung des Sowohl-als-auch, die der Bewahrung des monarchischen Gottesgnadentums und der Kräftebalance in Europa diente – zum Schaden der nach Freiheit und Liberalität verlangenden Völker.
Das von Napoleon ruinierte Europa stand an einem Scheideweg: Wollen wir uns zu liberalem und nationalem Demokratismus bürgerlicher Interessen reformieren oder restaurieren wir das alte Regime, natürlich in einem vermeintlich modernen Antlitz, fragten sich besorgte und zielbewusste Politiker wie der Freiherr vom und zum Stein.
Und nun lasen sie Sätze, nach denen die Fürsten keine Kriege mehr gegeneinander führen, sich nicht mehr um Geld, Gut und Territorien streiten wollten. Nur noch Frieden sollte herrschen im Erdkreis. Der oberste Souverän sollte weder Fürst noch Volk, sondern Christus und der Glaube an Gott sein. Die Monarchen wollten gute Väter einer europäischen nationalen Familie sein. Wie gut taten solche Worte nach langen Kriegen. Und wie wohl täte die Allmacht humanistischer Menschenrechte der Welt 200 Jahre später. Wenn da nicht die Übermacht des materiellen Gewinns wäre! Alle europäischen Souveräne unterzeichneten das Papier ohne Einwände. Lediglich drei Mächte weigerten sich: Großbritannien, weil das britische Parlament derartigen mystischen Schwärmereien abhold war; der Heilige Stuhl, weil er einen Eingriff in seine Prärogative fürchtete; das Osmanische Reich, weil es die abendländisch-christliche Orientierung als Affront gegen den Islam betrachtete. Mehr noch: Die europäischen Realpolitiker nutzten das heilige Papier lediglich, um daraus ein politisches Programm zur Bewahrung der Fürstenordnung zu formulieren. Metternich („Wortgeklüngel, ein tönernes Nichts“) verstümmelte das russische Manuskript derart, dass Alexander in seiner Heimat nur den eigenen Entwurf veröffentlichen ließ. Nachdem die Fürsten unterschrieben hatten, legten sie das Papier zu den Akten. Es gab noch einige internationale Friedenskongresse, in Aachen, Laibach, Verona und Troppau. Den russischen Kaiser deprimierte ein Treffen mehr als das andere. Als das lockere Bündnis tatsächlich auf die Probe gestellt wurde, verlor es sofort seinen Heiligenschein. Die „Heilige Allianz“ der Monarchen zerbrach ausgerechnet auf dem Balkan: an der Haltung gegenüber der griechischen Revolution und dann auch im Krim-Krieg 1853, als die Partner der Allianz wieder aufeinander losgingen. Ihren Todesstoß erhielt die Gemeinschaft, als 1871 mit der Gründung des Deutschen Reichs die Kräftebalance von 1815 vollends aus den Fugen geriet. Da half keine versöhnende Entschleunigung oder Transparenz im rasenden Stillstand. Selbst in der heutigen Gesellschaft, in der ein nichtssagender Faktor „Zufriedenheit“ als königliches Nonplusultra der meisten als repräsentativ proklamierten Befragungen gilt, bleibt die natürliche und praktische Gläubigkeit vieler Menschen über alle abstrakten Phantasien erhaben – Gott sei Dank!
Schlagwörter: Detlef Jena, Geschichte, Heilige Allianz, Krieg und Frieden, Religion