Es gehört zu den beliebten Klagen des Feuilletons, dass das Überleben der Gattung Oper bedroht sei, weil sie in der Wiederholungsfalle festsitze. Sie lebe nicht mehr vom Uraufführungsbetrieb wie noch bis vor einhundert Jahren. Es heißt, die Oper bringe nichts Neues mehr hervor und wiederhole nur einen immer kleiner werdenden Kanon des beim Publikum und bei den Machern Bewährten. Allenfalls der szenische Zugriff ändere sich, nicht aber die Stückeauswahl.
So ganz stimmt das freilich nicht. Und es ist ungerecht, den entdeckerfreudigen und wagemutigen Häusern gegenüber, die sich immer wieder für den Beweis des Gegenteils stark machen. Sogar mittlere oder kleinere Häuser – wie die Oper in Erfurt oder das noch viel kleiner Eduard-von-Winterstein-Theater im erzgebirgischen Annaberg-Buchholz – haben da die Chance zu einem Alleinstellungsmerkmal oder zumindest für überregionale Aufmerksamkeit. Diese Chance gehört zu den Vorzügen unserer, trotz aller Pandemie- und Finanzierungsprobleme, immer noch ganz gut funktionierenden subventionierten Opern- und Theaterlandschaft. Zählt man zum Beispiel in Erfurt aus Anlass der Uraufführung von Nestor Taylors „Eleni“, einer tragischen Episode aus dem Bürgerkrieg in Griechenland Ende der 1940er Jahre, mal nach, dann kommt man seit der Einweihung des neuen Opernhauses im Jahre 2003 allein dort auf zwanzig vom Haus beauftragte und auf die Bühne gebrachte Opernnovitäten! Klar, dass es davon nicht alle über die hohe Hürde einer Zweitinszenierung schaffen. Aber nur wer nichts wagt, hat mit Sicherheit verloren.
Neben echten Novitäten gibt es auch etliche verspätete Uraufführungen. So wurde im Deutschen Nationaltheater Weimar Joachim Raffs „Samson“ eine solche zuteil – sage und schreibe 170 Jahre, nachdem das Werk geschaffen worden war! Für die Inszenierung des biblischen Stoffes auf lohengrinnahen musikalischen Pfaden machten sich der Chefdirigent Musiktheater Dominik Beykrich mit der Staatskapelle im Graben und auf der Bühne, sogar der Starregisseur Calixto Bieito auf den Weg zu einem beachtlichen Erfolg.
Im Südwesten der Republik überraschte das Theater Ulm die Opernwelt kurz vor Jahresende mit der Uraufführung einer bislang unbekannten Opernvariante der Tristan-Legende aus dem Jahr 1926. Charles Tournimires „La Légende de Tristan“. Dabei war es wohl nicht mal die Tollkühnheit des vor allem als Organist bekannten Komponisten, es (ob nun bewusst oder unbewusst) mit Richard Wagners „Tristan und Isolde“ aufzunehmen, die eine zeitnahe Uraufführung verhinderte, sondern mehr der dem Komponisten nachgesagte schwierige Charakter. In der Regie des Hausherrn Kay Metzger gelang es jetzt dem Generalmusikdirektor des Hauses Felix Bender, die besonders enge Verbindung, die bei diesem Komponisten geradezu jede Silbe des Librettos mit dem komponierten Notentext hat, auf mustergültige Weise zum Leben zu erwecken.
Wie die Erfurter „Eleni“ in die Kategorie echter Novitäten, die hier (oder anderswo) und heute komponiert wurden, gehören auch Anno Schreiers neue Oper „Turing“ am Staatstheater Nürnberg und die letzte Oper des kürzlich verstorbenen bekanntesten belgischen Komponisten Philippe Boesman „On pourge Bébé“, die in der Brüsseler La Monnaie Oper das erste Mal über die Bühne ging.
Boesman und Schreier decken dabei mit ihren Novitäten ein Spektrum ab, das von der Veroperung eines heiter-flotten Vaudeville-Stückes von Georges Feydeau bis zu ernsthafter Aufarbeitung einer veritablen Ungerechtigkeit des um die Mitte des vorigen Jahrhunderts penetrant homophonen Großbritanniens im Umgang mit einem seiner Helden reicht.
Boesmans hat sich für seine letzte Oper auf eine Situationskomödie eingelassen, die von ihrem atemberaubenden Tempo lebt und bei der die Pointen nur so hin und herfliegen. Für diesen Affenzahn hat Bassem Akiki am Pult des La Monnaie Orchesters genau das richtige Gefühl. Mag gut sein, dass die Musiker durch die Vertrautheit mit Musiksprache ihres langjährigen Hauskomponisten dafür besonders prädestiniert sind. Mit dem Libretto gelang es Richard Brunel, die Vorlage geschickt operntauglich zu machen. Wie untergehakt galoppieren Komödie und der aus dem Graben aufsteigende originelle Palandosound dieses flotten Konversationsstückes auf ein befreiendes finales Chaos zu. Es geht allen Ernstes um die Verdauungsprobleme des Sohnemanns eines Porzellanfabrikanten, der für seine Nachttöpfe einen Auftrag der Armee ergattern will … Am Ende jedenfalls sind die Eltern der Verzweiflung nahe, so dass die Mutter – ganz und gar inkorrekt – einfach nur noch „Merde! Merde! Merde!“ rufen kann.
Ernsthafter, wenngleich nicht weniger unterhaltend, ging es in Nürnberg bei der Oper über den geheimen Helden der Briten beim Kampf gegen die Nazis, Alan Turing, zu, der zugleich ein tragisches Opfer von Homophobie wurde, zu. Der geniale Mathematiker knackte die Enigma-Kodierung der Nazis, wurde jedoch 1954 quasi in den Tod getrieben und tatsächlich erst 2013 mit einem „Royal Pardon“ von Königin Elisabeth II. rehabilitiert. Im Namen derselben Monarchin war Turing 1952 verurteilt worden! Immerhin: eine Biographie, ein Film und jetzt sogar die Oper sind Akte später Gerechtigkeit. Davon hat der Betroffene allerdings nichts mehr. Da geht es Turing wie Oscar Wilde. Turing war nicht weniger als einer der Joker im Ärmel von Churchill. Er enttarnte die verschlüsselte Kommunikation der Nazi-Marine, verzichtete aber selbst auf jede Tarnung seiner Neigung zu Männern. Dass das dem Genie zum Verhängnis wurde, taugt freilich zum Stoff für eine gut funktionieren Oper! In der Inszenierung von Jens-Daniel Herzog bleibt die Gedankenwelt des Genies ein Geheimnis, während der Umgang der Gesellschaft mit ihrem schwulen Helden als Skandal in ein grelles Licht gerückt wird. Erledigt ist das alles nicht. Schreiers Oper hätte in Russland nach der einschlägigen jüngsten Gesetzesverschärfung keine Chance, auf die Bühne zu kommen. Und ob es ihr in Polen oder Ungarn gelänge, bleibt auch eine Frage. Im liberalen Europa sollte man sie umso mehr nachspielen, zumal sie neben ihrem Lehr- auch einiges an Unterhaltungswert zu bieten hat.
Fazit: In der Oper gab es 2022 immer wieder auch was Neues!
Schlagwörter: Joachim Lange, Oper, Uraufführung