Was wird aus unserem Land? Was aus der Europäischen Union? Darüber wird heftig diskutiert. Das neue Buch von Oskar Lafontaine mit dem Titel „Ami, it´s time to go! Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas“ ist eine politische Streitschrift für die demokratische Debatte inmitten einer „Zeitenwende“. Der Autor ist ein wichtiger politischer Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts, dessen zahlreiche ehemalige Ämter hier nicht erwähnt werden müssen. Sein langjähriger politischer Gegenspieler Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) nannte ihn gar einen „der intellektuell spritzigsten und interessantesten Köpfe“ der deutschen Sozialdemokratie. Der CDU-Kanzler äußerte seine Wertschätzung für Lafontaine laut den „Kohl-Protokollen“ auch mit den Worten „Aber was ich ihm gar nicht genug anrechnen kann, ist seine europäische Gesinnung. Hier waren wir in vielen Fragen nahezu deckungsgleich.“
Lafontaine begnügt sich mit 50 Buchseiten, um seine Sicht der Dinge mitzuteilen. Er tritt für eine von den USA und deren nationalen Interessen unabhängige gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union ein. Sein Ziel ist die Verhinderung eines Nuklearkrieges in Europa, damit einhergehend das Verbot von Kurzstreckenraketen an den Grenzen von Atommächten. Die EU sollte eine an ihren eigenen Interessen orientierte internationale Wirtschaftspolitik sowohl gegenüber den USA als auch gegenüber China und Russland betreiben. Gefahr für die deutsche Wirtschaft und den sozialen Frieden sieht er in der Tatsache, dass es am Weltmarkt keinen preisgünstigen Ersatz für die russischen Rohstoffe gebe, weshalb ein konstruktives diplomatisches Verhältnis und tragfähige wirtschaftliche Beziehungen zur Russischen Föderation im deutschen und im EU-Interesse lägen. Den Ukrainekonflikt sieht er als einen „Stellvertreterkrieg für die USA“ auf europäischem Boden. Sein historischer Anknüpfungspunkt ist die Entspannungs- und Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD).
Das Buch beginnt mit einer emotional geschriebenen Analyse des Zustands der deutschen politischen Klasse, der Lafontaine den Vorwurf macht, die Lehren aus der Geschichte zu ignorieren. Im Gegensatz zu Verschwörungstheoretikern stellt er trotz deftiger Kritik die demokratische Legitimität der Bundesregierung nicht in Frage. Wenn er die Bundesrepublik als „Vasallenstaat der USA“ bezeichnet, untermauert er dieses Urteil durch eine ausführliche Aufzählung US-amerikanischer Kriege, ihrer Kriegsverbrechen, der Wirkweise US-amerikanischer Kriegspropaganda seit 1945 sowie Zitate von strategischen Vordenkern des „US-Imperialismus“ wie Kissinger, Wolfowitz und Brzeziński. Ein Hauptpunkt seiner kritischen Analyse ist die Aussage, erklärtes Ziel der USA sei es seit Langem, ein Zusammengehen der deutschen Technik mit den russischen Rohstoffen zu verhindern. Lafontaine ist davon überzeugt, dass die USA die Ostsee Pipeline Nord Stream 2 gesprengt haben, und bezeichnet dies wörtlich als „Kriegserklärung an Deutschland“. Zwar ist es im medialen Raum verdächtig ruhig um dieses Thema geworden ist – Beweise kann auch er nicht vorlegen.
Den Beginn des „Wirtschaftskrieges gegen Russland“ sieht Lafontaine spätestens im Jahr 2017, „lange vor dem Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine.“ Dabei blendet er die Tatsache aus, dass die zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim bereits 2014 von der Russischen Föderation annektiert wurde. Kein Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine? Fairerweise muss angemerkt werden, dass viele deutsche Politiker und Medien, nicht nur Lafontaine, erst seit dem 24. Februar dieses Jahres von einem Krieg in der Ukraine sprechen. Mithin benutzt er lediglich die Sprache der von ihm an anderer Stelle im Buch immer wieder kritisierten „Mainstreammedien“.
Im wesentlich kürzeren zweiten Kapitel teilt der Autor auf sehr persönliche Weise seine Gedanken zum Krieg als solchem mit. 1943 geboren, gehört Oskar Lafontaine zur Erlebnisgeneration des Zweiten Weltkriegs und berichtet von den Kriegstoten seiner eigenen Familie. Er erinnert an die vielen anderen Millionen Toten des Weltkriegs, beschreibt, wie ihn der US-amerikanische Krieg gegen Vietnam emotional bewegt und geprägt hat. Insbesondere Willy Brandt und Michael Gorbatschow benennt er in diesem Kapitel als europäische Streiter für den Frieden in Europa. Eindringlich warnt Lafontaine vor Russophobie, davor, dass wir „alle Russen zu Feinden erklären“. Und weiter: „Wir müssen darauf hinarbeiten, dass wir wieder zu einem friedlichen Miteinander mit Russland, mit den Menschen dort kommen. Mir tun nicht nur Ukrainer leid, die jetzt unter dem Bombenhagel zu Tode kommen oder verletzt werden. Mir tun auch die jungen Russen leid, […] die ebenfalls ums Leben kommen.“ So kontrovers etliche Aussagen dieser politischen Streitschrift diskutieren werden können, dieser letzten Aussage schließt sich der Rezensent in stillem Gedenken für die Gefallenen und Verletzten auf beiden Seiten an.
Oskar Lafontaine: Ami, ist’s time to go! Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas. Westend Verlag, Frankfurt am Main 2022, 12,00 Euro.
Schlagwörter: EU, Oskar Lafontaine, Stephan Giering, USA